Phrasenmäher "Notbremse":Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

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Hilft ja nichts: Bund und Länder betätigen das Instrument, das hier in der Berliner S-Bahn zu sehen ist. (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Die neue Lieblingsfloskel der coronageschundenen Politiker lautet: Notbremse. Bitte festhalten.

Von Harald Hordych

In diesen epidemischen Tagen erlebt ein für Tatendrang und Entschlossenheit stehendes Sprachbild eine anhaltende Phase der Hochkonjunktur. Das Ziehen der Notbremse verknüpft den Menschen, der zu diesem letzten Mittel greift, mit schillernden Prädikaten wie Charakterstärke und Verantwortungsbewusstsein. Konsequenz, Mut, Tapferkeit - der Notbremser ist der Mann der Stunde, zumindest der Sekunde, in der alles auf dem Spiel steht.

Im Fußball, in der Wirtschaft, ja manchmal sogar in der Politik wurde seit eh und je voller metaphorischer Kühnheit die Notbremse gezogen, wenn Unheil verhindert werden soll, größeres natürlich als das bisschen Unheil, das durch den jähen Stopp verursacht wird. Dann purzeln Menschen durch den Zug, sie stürzen, sie verletzen sich womöglich. Aber das Unglück, das viele Opfer kosten könnte, ist um diesen schmerzlichen Preis verhindert worden. Wer je in einem Zug unterwegs war, in dem der rote Hebel gezogen wurde, erinnert sich, wie langsam der vom Nothalt ausgelöste Schock der beruhigenden Erkenntnis weicht: Das tat weh. Aber es brachte die Rettung. Dann eilt der Schaffner herbei und ruft: "Warum haben Sie das getan?" Und wenn kein guter Grund vorliegt, wird eine hohe Strafe fällig.

Es ist ja nur ein Achtel Nothalt, den keiner mitkriegt

Wer die Notbremse zieht, beendet die Reise und muss die Konsequenzen tragen. Das macht die Notbremse zu einer gefährlichen Floskel: Welcher Politiker möchte da den Zug wirklich zum Stehen bringen? Deshalb gibt es sie neuerdings mit Zusatzausstattung, man bekommt sie jetzt überall als Notbremse light. Am Dienstag hat Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) in Potsdam gesagt: "Wir haben uns entschieden, die Notbremse im Land Brandenburg weiter und damit noch fester anzuziehen." Die Notbremse wird also nur halb oder nur ein bisschen oder, wie Markus Söder sagt: flexibel gezogen. So symbolisiert sie weiter Entschlossenheit, aber der Zug fährt zum Glück doch weiter. Weil er ja sonst stehen bleiben würde! Es ist ja nur ein Achtel Nothalt, den keiner mitkriegt und den der Schaffner nicht melden muss.

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