Seneca will im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in täglicher Überprüfung "sich vor sich selbst verantworten", "sich Rechenschaft geben über sein sittliches Verhalten", sich "inspizieren" "nichts vor sich verbergen", "nichts durchgehen lassen". Es geht ihm nicht um Bändigung, Abkehr oder Abtötung seiner Existenz, um einen Sieg über seinen Körper, sondern um Wahrhaftigkeit, um Aneignung und Besitz seiner selbst: er will nur sich gehören, sein eigener Herr sein, Macht über sich ausüben, sein eigen sein - und niemandem sonst gehorchen.
"Der Wille, ein moralisches Subjekt zu sein, und die Suche nach einer Ethik der Existenz waren in der Antike ein Bemühen, seine Freiheit zu behaupten und seinem eigenen Leben eine Form zu geben, in der man sich anerkennen und von den anderen anerkannt werden konnte. Sogar die Nachwelt konnte sich daran ein Beispiel nehmen.", sagt Foucault in "Ästhetik der Existenz".
Suche nach einer neuen Ästhetik der Existenz
Und man gibt sich nicht bloß zufrieden mit dem, was man ist, man erfreut sich an sich selber. "Disce gaudere", "Lerne, dich zu freuen!", heißt es bei Seneca.
Da die realen, objektiven Krisen und Problemlagen der Moderne heute sich erwiesenermaßen nicht durch individuelle Betroffenheiten und "persönliches gut" lösen lassen, "sehen sich Angehörige unserer Zivilisation unter Leidensdruck gezwungen, quasi neu-klassisch das Erkenne-dich-selbst zu wiederholen." (Sloterdijk). Dem "Fehlen einer allgemeinen Moral muss eine Suche entsprechen, nämlich die nach einer neuen Ästhetik der Existenz." (Foucault) So formuliert aktuelle Philosophie den Weg zu gutem Leben und Freiheit. Wer weiß. Fest steht aber: Das Werkzeug zu ihrer Entdeckung gibt es nicht im Baumarkt.