Philosophie:Vernunftoptimismus

Hermann Cohen, 1917

Hermann Cohen, 1842 in Coswig geboren, starb am 4. April 1918 in Berlin.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Bei ihm hörten Kurt Eisner und Ernst Cassirer: Vor 100 Jahren starb der Philosoph Hermann Cohen.

Von Thomas Meyer

Als Hermann Cohen am 4. April vor 100 Jahren in Berlin im Alter von 76 Jahren verstarb, trauerte man nicht nur um den ersten jüdischen Philosophieprofessor an einer deutschen Universität. Mit Cohens Tod endete für die Zeitgenossen auch die faszinierende Geschichte des nachidealistischen Vernunftoptimismus. Der 1842 im anhaltinischen Coswig geborene Sohn eines strenggläubigen, mit den religiösen Traditionen vertrauten Kantors, nutzte zunächst die Möglichkeiten der besten säkularen wie jüdischen Bildungseinrichtungen. Das noch heute lesenswerte erste Ergebnis war der 1867 anonym erschienene Aufsatz "Heinrich Heine und das Judentum". Vier Jahre später überraschte Cohen die Fachwelt mit der Studie "Kants Theorie der Erfahrung", die den erkenntniskritischen Kant rehabilitierte. Kurz zuvor hatte er in einer komplexen Logik-Debatte zwischen Kuno Fischer und Friedrich A. Trendelenburg den Ausschlag gegeben. All das wurde aufmerksam registriert und führte schließlich 1873 zu einer Professur in Marburg, wo er bis 1912 lehrte.

Dort widmete sich Cohen von Beginn an mehreren Vorhaben. Neben der äußerst fruchtbaren Beschäftigung mit der "Weltlinie der Philosophie" von Platon bis Kant, der mit Paul Natorp betriebenen Gründung einer "Schule", bemühte er sich durch die Etablierung von jüdischen Institutionen, die Emanzipationsbewegung zu verstetigen. Zunächst lief alles wie gewünscht: aus dem eigenwilligen Exegeten wurde ein angesehener Systemphilosoph, der nach den viel diskutierten Arbeiten zur "Logik der reinen Erkenntnis" und der "Ethik des reinen Willens" 1912 mit einer zweibändigen "Ästhetik des reinen Gefühls" ans Ziel gekommen zu sein schien. Die "Marburger Schule" des Neukantianismus zog talentierte Studenten aus ganz Osteuropa und Russland an, aber auch Amerikaner und Japaner kamen, um bei Cohen und Natorp zu hören. Der spätere bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner gehörte ebenso zu den "Marburgern", wie der nachmalige Autor von "Doktor Schiwago", Boris Pasternak.

"Der Antisemitismus ist die nackte Dummheit - die sich selbst vernichten muss."

Cohens Vernunftoptimismus schien sich bei all dem zu bestätigen, doch er war nicht naiv. Ihm war klar, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht ohne Weiteres die Gleichstellung der Juden einfach so hinnehmen würde. Er war es dann, der schnell im Zentrum dessen stand, was später der "Berliner Antisemitismusstreit" genannt wurde. Den hatte der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke 1879 mit der Formulierung "Die Juden sind unser Unglück" in seiner Schrift "Unsere Aussichten" losgetreten. Cohen schrieb ihm lange Briefe, die er teilweise in seiner Polemik "Bekenntnis in der Judenfrage" verwendete. Doch das war nur eine Front, denn der Antisemitismus organisierte sich. Cohen wurde in der Folge Gutachter in einem Prozess über angebliche Talmud-Aussagen. All das schaffte ihm auch auf jüdischer Seite Gegner. Denn Cohens Idee einer "nationalen Verschmelzung" mit dem christlichen Gegenüber, bei gleichzeitigem Absehen von jeder politischen oder sozialen Analyse des Antisemitismus, wurde mit Kopfschüttelen quittiert.

Die Aussage "Der Antisemitismus ist die nackte Dummheit - die sich selbst vernichten muss", so Cohen 1881, wirkte auf viele nicht minder realitätsfern, wie die erstmals 1915 publizierte Schrift "Deutschtum und Judentum", die darin als Bündnispartner auftraten. Genauere Leser erkannten, dass Cohens Tendenz, sämtliche Phänomene des universal gedachten "Kulturbewusstseins" in Ethik aufzulösen, vor nichts haltmachte und somit die konsequente Übertragung seiner systematisch gewonnenen Einsichten in alle Geltungsbereiche menschlicher Tätigkeit darstellte.

Nicht zuletzt an diesem Schritt haben sich seine zahlreichen Schüler gerieben: Ernst Cassirer setzte seine funktionelle "Kritik der Kultur" gegen Cohens Ideen von Ursprung und Einheit des Bewusstseins, während Nicolai Hartmann von der Erkenntniskritik zur Metaphysik zurückkehrte und Franz Rosenzweig in seinem "Stern der Erlösung" den religiösen Cohen gegen den Kantianer ausspielte. Dass sich Cohen nach dem Umzug nach Berlin 1912 intensiver als je zuvor der fundamentalen Bedeutung der Begriffe "Religion" und "Judentum" widmete, belegen gleich mehrere Abhandlungen. Kanonisch gewordene Texte zu den mittelalterlichen Denkern Moses Maimonides und Bachja Ibn Pakuda, sowie die scharfe Zurückweisung von Spinozas Atheismus, bereiteten die Wende vor. Die posthum 1919 erschienene "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" wurde zu dem Grund- und Rätselbuch für mehrere Generationen. Ein letztes Mal bäumte sich darin der Vernunftoptimismus auf, ohne auch nur die spätere Geschichte geahnt haben zu können: Seine Ehefrau Martha Lewandowski stirbt 1942 im KZ Theresienstadt.

Hermann Cohens Abenteuer des Geistes kann man in einer seit 1977 erscheinenden erstklassigen Edition dank Helmut Holzhey und Hartwig Wiedebach nachlesen.

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