Philosophie:Paradiese sind kein Jagdrevier

Lesezeit: 3 Min.

Ralf Konersmann spürt in einer Studie der Unruhe nach - für ihn die eigentliche Triebkraft der abendländischen Kultur.

Von Michael Stallknecht

Heute schon im Stress gewesen? Oder schon mal einen Burn-out gehabt? Also her mit dem nächsten Ratgeber! Schließlich gilt es flexibel zu sein, innovative Lösungen zu finden, und nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Was gelingt, ist immer nur ein "Schritt in die richtige Richtung", und was misslingt, ein Zeichen dafür, was "noch immer nicht" in Ordnung ist. Es geht darum, Reformen anzupacken, alles muss sich wandeln.

"Die Unruhe hat sich mit dem Gefühl verbunden, ihr nicht entgehen zu können, ja ihr, selbst wenn es möglich wäre, auch nicht entgehen zu dürfen", konstatiert der Philosoph Ralf Konersmann in seinem Buch "Die Unruhe der Welt".

Konersmann ist Kulturgeschichtler, Mitherausgeber der Zeitschrift für Kulturphilosophie sowie des "Historischen Wörterbuchs der Philosophie" und schreibt nebenher regelmäßig Beiträge für die deutschsprachigen Feuilletons. Er ist also wie prädestiniert, ein Buch zu schreiben, das mit einer manchmal fast dandyhaft vorgeführten sprachlichen und stilistischen Eleganz erzählt, wie sie eigentlich in die Welt kam, die große Unruhe.

Er erzählt mit einer fast dandyhaft vorgeführten sprachlichen Eleganz

Jenseits von Eden, so Konersmann, befinden wir alle uns in dem paradoxen Zustand einer "sekundären Bequemlichkeit der Unruhe". (Foto: Rudi Sebastian/plainpicture)

Dass sie kein bedingungslos willkommener Gast ist, erzählt schon unser wichtigster Mythos: der von der Vertreibung aus dem Paradies. Herrschte im Garten Eden noch die große Wunschlosigkeit, so ist die Unruhe der Zustand des in die Sünde gefallenen Menschen. Der unruhige Mensch trägt das Kainsmal: "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein", spricht Gott. Seitdem wohnen wir alle "jenseits von Eden", mehr oder minder eingerichtet im immer paradoxen Zustand einer, wie Konersmann es nennt, "sekundäre(n) Bequemlichkeit der Unruhe": "Nachdem sich alles und jedes ständig ändert, soll wenigstens darauf Verlass sein."

Doch darum ist die Unruhe für Konersmann noch lange kein Teufelswerk, wie Kulturpessimisten an dieser Stelle annehmen müssten. Sondern das Werk durchaus frommer Männer, zum Beispiel das des Francis Bacon. "Viele werden ratlos umherirren, und die Erkenntnis wird groß sein", lässt der Renaissance-Gelehrte ein Bibelzitat auf das Titelblatt seines "Novum Organum" drucken. Den Urmythos von der Vertreibung erzählt er fort, allerdings mit einer kleinen Modifikation: Wissen und Bildung, lehrt Bacon, können das ursprüngliche Paradies wiederherstellen. Ruhe bleibt das Bessere, in ihrem Dienst aber gilt es unruhig zu sein. Und schon steckt Unruhe mitten in der Theorie, die bis dahin - "theoria" meint im Griechischen "Schau" - so gelassen auf die Welt geblickt hatte wie Konersmann auf die stetige Entwicklung der Unruhe in der (westlichen) Neuzeit: "Das alte Erkennen war ein Umschauen, das neue ist ein Jagen."

Paradiese aber taugen schlecht als Jagdrevier, weshalb sie bald schon unter den unabweisbaren Verdacht geraten, eigentlich eintönig und langweilig zu sein. Zum Beispiel bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der das Paradies nur noch als ein "Weben seiner in sich selbst" bezeichnet. Ruhe bleibt zwar auch bei Hegel noch das Endziel der Geschichte, diese selbst aber vollzieht sich als Zivilisierungsprozess von Unruhe.

Sein Leser Karl Marx zieht darauf noch radikalere Schlüsse: Er beschreibt nicht nur den Kapitalismus bereits als rasenden Gott, sondern etabliert die Veränderung endgültig als die neue Normalität. "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern", lautet der bekannte Slogan.

Darin steckt die endgültige Absage an alle Theorie und die Verschreibung an die unwiderrufliche Praxis der Veränderung. "Dass die Welt etwas ist, das es zu verändern gilt", so Konersmann, "war und ist der fraktionenübergreifende Konsens europäischer Intellektualität. Der erhabenste Ruhmestitel, den die westliche Kultur an ihre Intellektuellen zu vergeben hat, ist die Auszeichnung als Unruhestifter."

Es ist ein Titel, auf den Konersmann bei allem merklichen Stolz auf die eigene Intellektualität eher verzichtet. Wie auf manches, was bei diesem Thema noch möglich gewesen wäre: Die Eisenbahn, die Weltkriege oder das Internet kommen im Buch ebenso wenig vor wie die Beiträge zum Thema aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die des Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio zum Beispiel oder die aktuelleren des Soziologen Hartmut Rosa.

Ist Ersteres dem strikt ideengeschichtlichen Ansatz geschuldet, dann Letzteres wohl dem Abstand, der die Theorie, die große Schau mindestens in der Rückschau noch einmal ermöglichen soll und damit auch die Beruhigung, die in ihr lag. Die Praxis dagegen meidet Konersmann schon deshalb, weil die umstandslose Korrekturanweisung nach Art der Ratgeberliteratur selbst die Beunruhigung fortschreibe, als deren Korrektur sie sich ausgibt.

Eine Deutung gelingt dennoch: Ebenso wie Hegel hält Konersmann die Unruhe für das Zivilisationsmoment schlechthin, für den eigentlichen Gründungsakt der Kultur. Ihn zu negieren, wäre schlechthin unmöglich, obwohl oder gerade weil auch die Unruhe für Konersmann ebenso wie die Paradieserzählung ein Mythos bleibt. Denn nur Mythen sind nicht begründungspflichtig, üben aber den vollkommenen zwanglosen Zwang über ihre Hörer aus. Mythen gewähren uns eine fraglose Übereinkunft, verpflichten uns dafür aber auch zu ihrer bedingungslosen Anerkennung. "Als Adressaten des Mythos haben wir uns das Versprechen der Veränderung immer schon zu eigen gemacht, und nun bestehen wir darauf."

Es könnte also alles auch ganz anders sein, aber nicht nach dieser Vorgeschichte. Für die westliche Kultur gilt das, was Thomas Mann einmal so fasste: Sie sei ein "abendländisches Aktivitätskommando".

© SZ vom 03.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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