Philosophie im Kaiserreich:Die Übermenschin

Auf höchst eigentümliche Art wurde die Schwester Friedrich Nietzsches zu einer "Zentralfigur der deutschen Ideengeschichte".

Von Thomas Meyer

Elisabeth Förster-Nietzsche, 1921

Sie wachte über Nietzsches Nachlass - Elisabeth Förster-Nietzsche.

(Foto: Scherl)

Man liest die Hauptthese der neuen Studie "Die Macht des Willens" des Marburger Historikers Ulrich Sieg zunächst einmal mit Skepsis. Er möchte nämlich die 1846 in Röcken geborene und 1935 in Weimar verstorbene Elisabeth Förster-Nietzsche als "Zentralfigur der Ideengeschichte" ausweisen, zu der sie auf "höchst eigentümliche Art" geworden sei. Und Unbehagen mag einen beschleichen, wenn für Sieg die gerne als "Schwester" titulierte Förster-Nietzsche nicht etwa deshalb zu dieser "Zentralfigur" wurde, weil sie bereits zu Lebzeiten eine vielfach überführte Fälscherin von Schriften und Briefen ihres Bruders war. Und Ulrich Sieg rekurriert für seine These auch nicht auf die vor allem dank Förster-Nietzsches Nachlasspolitik fatale Rezeption des Bruders im "Dritten Reich" oder ihre enge Bekanntschaft mit Hitler und anderen Größen des Nationalsozialismus. Wie also kommt er zu seiner Einschätzung?

Ulrich Sieg hat erstmals systematisch den wohl größten Einzelnachlass in deutschen Archiven durchkämmt. Er stimmt Förster-Nietzsches Schriften, Briefe und Tagebuchäußerungen mit den Strategien ab, die sie anwandte, um Friedrich Nietzsche zu einem Meisterdenker und Propheten zu machen und spürt den widersprüchlichen Reaktionen auf ihre Aktivitäten nach. Dass Förster-Nietzsche ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Bruder hatte, der Nachlass zu dieser Beziehung von ihr selbst vorgenommene Manipulationen aufweist, welche die Schlüssellochperspektive als die einzig mögliche erscheinen lassen, notiert Sieg provokativ nüchtern. Wichtig ist ihm, wie Förster-Nietzsche die gemachten Erfahrungen verarbeitete, welche Welt sie sich dabei erschuf. Letzteres wird sich als entscheidend für die Einschätzung Förster-Nietzsches erweisen.

Bereits ihre Heirat mit dem von Nietzsche wegen seines Antisemitismus abgelehnten Verehrers Bernhard Förster wird rasch nach dessen Tod 1889 zu einer Geschichte, in der Höheres die entscheidende Rolle spielt. Dieses Höhere lässt sich am besten mit einem milden Auserwähltheitsglauben beschreiben. In einem von Elisabeth anonym publizierten Buch finden sich zahllose Erfindungen über die Zeit des Ehepaars in Paraguay und das nicht erst mit dem Tod Försters gescheiterte Projekt der Kolonie "Nueva Germania". Aber alles klingt plausibel, ganz auf die Bedürfnisse des modernen Bürgertums zugeschnitten, das die Moderne skeptisch betrachtet, wie es deren Vorteile zu nutzen weiß. Förster-Nietzsche "plaudert" sich, so Sieg, durch die Geschichten. Aber sie tut es mit klaren Akzentsetzungen, weiß genau, was sie erzählt, was nicht. Die vermeintliche Harmlosigkeit folgt dabei keinem durchtriebenen Programm, und ihre an den Schriften Friedrichs orientierte, mit einem erstaunlichem Gespür für die geistige Situation der Zeit geschriebene Prosa verschränkt geschickt innere Aufrichtigkeit, Stimmigkeit und Ressentiment.

Talent macht zumeist übermütig, doch Förster-Nietzsche ist aus anderem Holz geschnitzt. Die Pflege des zusammengebrochenen Bruders ist verbunden mit Herrschaftswissen dank des direkten Zugangs zu seinen Manuskripten und Briefen. Bereits der erste, 1895 erschienene Band ihrer Biografie setzt die entscheidenden Akzente, mischt private Einblicke mit dem Abdruck unbekannter Dokumente, präsentiert Nietzsche als reine Seele und Weltgeist. Auf so einen hat man gewartet und nicht minder auf die authentische Stimme, welche die von vielen geahnte Größe Nietzsches endlich bestätigt. Das Buch wird ein Erfolg, es stößt die Tore für die Marke "Friedrich Nietzsche" weit auf.

Förster-Nietzsche erweist sich in all den folgenden Deutungskämpfen, den Auseinandersetzungen mit der Mutter, dem Antichambrieren bei falschen und echten Freunden, dem Durchsetzen ihrer Interessen, der Etablierung von Editionen und schließlich dem Bau der Villa Silberblick, die das Nietzsche-Archiv im Musenwitwensitz Weimar beherbergen wird, wie die Dirigentin eines Riesenorchesters: ohne Ahnung von der Partitur, doch mit sicherem Schlag und mit der Gewissheit, dass ihre Botschaft obsiegen wird.

Sieg lässt die Prominenten und Unbekannten aufmarschieren, die mal die Erfolgsgeschichte beschleunigen, dann wieder in die Räder greifen wollen. Der notorische Harry Graf Kessler, ebenso wie die Philosophen Bruno Bauch und Hans Vaihinger, den Anthroposophen Rudolf Steiner und viele weitere, die Förster-Nietzsches Bahnen kreuzen und dennoch nur mal als halb bewusste, mal gänzlich naive Handwerker am Mythenschrein namens Nietzsche mitarbeiten. Es ist ganz erstaunlich, wie es dazu kommt, dass Förster-Nietzsche sich bei all den Balgereien hält. So schroff die Angriffe sind, so viel Neid ihr entgegenschlägt oder sie für dumm und schädlich erklärt wird - sie hält Kurs.

Sie lässt neue Bücher über den Bruder erscheinen, die weitere Gemeindemitglieder werben. Der Nietzsche-Strom reißt nicht ab, zumal Förster-Nietzsche sowohl als Marketingkennerin wie auch als Editorin reüssiert. Denn es finden sich immer wieder trunkene Jünger und Anbeterinnen, die sich in die Bresche werfen, wenn die Philologen ob der zahllosen Eigentümlichkeiten der Konstrukteurin des "Willens zur Macht" mal wieder mäkeln mit ihrem zur "geistigen Dürftigkeit neigenden Standpunkt".

Förster-Nietzsche schreibt unentwegt weiter an dem 1895 einmal festgelegten Bild des Bruders, das wie ein Magnet alle und alles anzieht, was sich selbst als Deutsch versteht. Es gehört zu den großen Verdiensten von Ulrich Siegs Buch, dass er all die vorgetragenen Gesänge und Hymnen auf Reinheit und Geist, Wille und Macht nicht denunziert, sondern auf ihren epistemologischen Gehalt abklopft. Dadurch erst wird das Amalgam und seine Zusammensetzung kenntlich: die Mischung aus Moderne-Rhetorik und reaktionärer Grundstimmung, rassistisch konnotierten Argumenten, die zugleich eine immense Kenntnis der Geistesgeschichte verraten. So braut sich nach 1900 eine Lust am Arcanum zusammen, die ebenso fröhlich Andersdenkende ausgrenzt wie sie um das Besondere ihres Tuns und Trachtens weiß. Mittendrin, mal lobend, mal tadelnd, immer genau abwägend: Elisabeth Förster-Nietzsche. Ob Kaiserreich, Weimarer Republik oder Drittes Reich, sie hält Hof und wacht in Weimar über die richtige Auslegung. Ihr Gespür für zweckgebundene Allianzen verliert sie ebenso wenig, wie das rechte Maß gegenüber den ideologischen Großwetterlagen. An der Trauerfeier nach ihrem Tod im November 1935 nimmt auch der "Führer" teil, wenn auch nur kurz.

Es ist keine Frage, dass Förster-Nietzsche auf höchst eigentümliche Art zu einer Zentralfigur der deutschen Ideengeschichte wurde. Ulrich Sieg hat zur Stützung seiner These Bekanntes und Neues gemischt und sprachlich souverän dargestellt. Letztlich ist sein Buch aber ein Beitrag zur Frage nach dem Deutschsein. Zusammen mit der Biografie über den Theologen Paul de Lagarde und seiner Studie zur Philosophie im Wilhelminismus hat Sieg ein einzigartiges Triptychon aus Antwortversuchen geschaffen. Wenn ein Wunsch zu äußern wäre: angesichts des auch international deplorablen Mangels an guten Nietzsche-Biografien wäre Ulrich Sieg der erste Kandidat für eine neue Darstellung. Titelvorschlag: Der Bruder.

Ulrich Sieg: Die Macht des Willens. Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt. Hanser Verlag, München 2019. 430 Seiten, 26 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: