Philosophie:Geballte Dosis Anwesenheit

Martin Heidegger und Giorgio Agamben, Thouzon, 1966 (Foto von François Fédier. Mit freundlicher Genehmigung von Giorgio Agamben)

„Heidegger hielt sein Seminar in Le Thor in einem von hohen Bäumen beschatteten Garten ab. Manchmal wanderten wir aus dem Dorf hinaus, in Richtung Thouzon …“: Martin Heidegger und Giorgio Agamben in Thouzon 1966.

(Foto: François Fédier)

Das Italienische Kulturinstitut in Berlin widment Giorgio Agamben eine ganz Woche mit Tagungen und Vorträgen.

Von Lothar Müller

Seit einigen Jahren widmet das Italienische Kulturinstitut in Berlin herausgehobenen Repräsentanten der Kultur des Landes ganze Veranstaltungssequenzen. Der Titel des Formats - "DediKa" (Widmung) - akzentuiert die Hommage, die damit für die Eingeladenen verbunden ist. Vor zwei Jahren war der Germanist und Autor Claudio Magris zu Gast, der mit seinen Studien über den habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur bekannt wurde, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung angehört und in seinen Essays und Romanen immer wieder die Vertrautheit mit der deutschen Literatur und Geschichte anklingen lässt.

Das Konzept der Reihe ist älter als die aktuelle italienische Regierung. Nun, da in der Wahrnehmung Italiens der Konflikt zwischen Rom und Brüssel in der Schuldenfrage dominiert und vielen Deutschen ihr ehemaliges Sehnsuchtsland immer größere Rätsel aufgibt, wächst dem Konzept eine Kontrastfunktion zu. Den politischen Friktionen setzt es die Betonung der kulturellen Verbindungslinien zwischen beiden Ländern entgegen.

In diesem Sommer ist der 1942 in Rom geborene Philosoph Giorgio Agamben eingeladen. In einer kleinen biografischen Ausstellung kann man in seine Arbeitszimmer blicken, auf einer Fotografie aus dem Jahr 1966 steht er während eines Seminars mit dem Philosophen Heidegger auf einem Steinbalkon in der Provence, auf einer Schrifttafel erklärt er seine Faszination für die Schriften Walter Benjamins. Sehr jung sieht er auf der Aufnahme aus, die ihn während der Dreharbeiten zu Pier Paolo Pasolinis Film "Das Matthäusevangelium" zeigt, als den Apostel Philippus. In einer Vitrine ist ein Buch von Simone Weil aufgeschlagen, über die er seine Dissertation verfasst hat. Nicht weit davon entfernt eine Originalausgabe des Kinderbuchs "Pinocchio" aus seinem Besitz mit der Version, in der am Ende der hölzerne Held den exakt und lakonisch beschriebenen Tod durch Erhängen erleidet.

Agamben gehört zu den Intellektuellen, die in der akademischen Welt sehr prominent, in der allgemeinen Öffentlichkeit hingegen allenfalls dem Namen nach bekannt sind. Das Programm, das er in Berlin absolviert, setzt auf ein gemischtes Publikum. Er spricht im Kulturinstitut anlässlich der deutschen Ausgabe seines Buches "Pulcinella oder Belustigung für Kinder" über die philosophische Bedeutung der Komödie, im Seminar des Judaisten Giulio Busi an der Freien Universität über den Messianismus im Werk Walter Benjamins, beim Internationalen Poesiefestival tritt er mit der Lyrikerin Patrizia Cavalli auf, die Universität der Künste widmet seinem Hauptwerk "Homo Sacer", dem Versuch einer philosophischen Antwort auf die Konzentrationslager des zwanzigsten Jahrhunderts und die Auslöschung des "nackten Lebens", eine eintägige Konferenz.

Der Kern seines Werks könne im Unpublizierten liegen

Eine geballte Dosis Anwesenheit ist eine solche Auftrittskaskade. Sie gibt der Hoffnung Auftrieb, dass die mündliche Selbstauskunft des Philosophen seine Schriften erläutert. Beim Eröffnungsabend, im Gespräch mit Luigi Reitani, dem Leiter des Italienischen Kulturinstitutes, nährte Giorgio Agamben diese Hoffnung und schlug immer wieder Brücken zwischen Anekdoten aus seinem Leben und seinen philosophischen Interessen. Die enge Beziehung zu Pasolini, der Umgang mit dem Dichter Giorgio Caproni, mit Ingeborg Bachmann, mit Malern - Zeichen der Unverzichtbarkeit des Zusammenspiels von Kunst und Philosophie, der Unmöglichkeit für einen italienischen Philosophen, mit geschlossenen Augen zu schreiben, blind für die bildenden Künste. Der Apostel Philippus, dem ein apokryphes Evangelium zugeschrieben wird - im Rückblick eine ideale Rolle für den Verfasser eine Kommentars zum Römerbrief des Apostels Paulus.

Aber sofort dämpfte der Philosoph die Hoffnung auf Selbstauskunft und deutete an, der Kern seines Werks könne im Unpublizierten liegen. Und wer von seinen biografischen Selbstauskünften mehr über das ihm Eigene, Originelle erwartete, wurde mit einem Loblied der Epigonalität, der Absage an das Schreiben von Autobiografien und einem programmatischen Zitat aus dem "Bekenntnis" von Karl Kraus beschieden: "Ich bin nur einer von den Epigonen, / die in dem alten Haus der Sprache wohnen." Das hatte durchaus etwas von einer philosophischen Komödie. Denn Agamben ließ die folgenden Verse fort: "Doch hab' ich drin mein eigenes Erleben, /ich breche aus und ich zerstöre Theben."

Wie nicht wenige seiner Gewährsmänner, darunter auf dem Feld der "Biopolitik" Michel Foucault, gehört Giorgio Agamben zu den Zerstörern eines selbstgewissen Humanismus. Ein Indiz dafür ist die Hartnäckigkeit, mit der er unter wechselnden Titeln immer wieder auf die Anthropologie und das Prekäre der Tier-Mensch-Unterscheidung zurückkommt, etwa in dem Band "Das Offene" (2002).

Die "Lectio magistralis", die große öffentliche, auf Englisch gehaltene Vorlesung unter dem Titel "Vocative, Voice" im Senatssaal der Humboldt Universität hatte denn auch hier ihren Fluchtpunkt. Sie mochte zunächst als Kommentar zum eigenen Auftritt erscheinen, zur Bedeutung der leibhaftigen Stimme in der Philosophie. Aber die subtile philosophische Herleitung der grammatischen Figur des Vokativ als Teil der Deklination des Substantivs und die Revision der scheinbaren Opposition von Stimme und Schrift lief konsequent auf den Gedanken zu, dass es kein stolzes Selbstbewusstsein des Menschen als "sprechendes Tier" geben kann. Das stolze Selbstbewusstsein wäre mit der Gewissheit verbunden, das der Mensch durch Sprache und Schrift ein für allemal aus dem Tierreich herausgetreten ist und es hinter sich gelassen hat, um zoon politikon werden zu können. Diese Gewissheit gibt es in dieser Vorlesung bei Giorgio Agamben so wenig wie in seinen Schriften. Dass die Tier-Mensch-Differenz eine nicht gesicherte Grenze ist, gehört zu den Grundmotiven in dem Schriftenzyklus zum "Homo sacer", in dem das "nackte Leben" der souveränen Macht gegenübersteht und das zoon politikon sich am Ende dieser Einsicht stellen muss.

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