"Philomena" im Kino:Böser, scharfer Blick auf die Welt

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Maximale Gegensätze: Judi Dench als suchende Mutter und Steve Coogan als Medienzyniker finden in "Philomena" zusammen.

(Foto: dpa)

Hinter "Philomena" verbirgt sich eigentlich eine herzbewegende Geschichte. Aber Stephen Frears und Steve Coogan zeigen, wie man daraus mehr macht als ein deutsches Fernsehspiel: Sie verlassen sich nicht einfach auf die unglaubliche Wahrheit.

Von Tobias Kniebe

Zum Geheimnis großer Erzähler gehört es, dass sie die Schwächen ihrer Stoffe in ganz unwahrscheinliche Stärken verwandeln können. Denn "Philomena", da braucht man sich nichts vorzumachen, ist zunächst mal eine typische Herzschmerz-Geschichte mit Goldrand, die zu allem Überfluss auch noch wahr ist: Katholische Nonnen im Irland der Fünfzigerjahre nehmen einer jungen, unverheirateten Mutter ihr Kind weg - und verkaufen es an reiche Amerikaner.

Fünfzig Jahre lang hofft die Mutter auf eine Wiedersehen, wagt es aber nicht, ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen. Als sie doch schließlich Mut fasst, beginnt eine späte Suche, die zu herzbewegenden und tränenreichen Erkenntnissen führt.

Der BBC-Fernsehjournalist Martin Sixsmith, der durch Zufall auf diese Geschichte stieß und der gepeinigten Frau bei ihrer Mission half, ist ein guter, aber kein großer Erzähler. In der Einleitung seines Buchs "The Lost Child of Philomena Lee", das 2009 in Großbritannien erschien, ist er gleich bei der ersten Begegnung mit seiner Heldin von der Idee fasziniert, Detektiv zu spielen. Anschließend bringt er sich selbst zum Verschwinden, um alles so nachzuerzählen, als sei er persönlich dabeigewesen. Das funktioniert, würde so aber allenfalls für eine gutgemeinte deutsche Fernsehadaption taugen.

Böse unter die Räder gekommen

Der Autor und Schauspieler Steve Coogan, der die Story fürs Kino adaptiert hat, und sein inzwischen wirklich mit allen Wassern gewaschener Regisseur Stephen Frears haben einen wesentlich böseren, schärferen Blick auf die Welt. Als Erstes nehmen sie Martin Sixsmith die Rolle des souveränen Erzählers weg. Er rückt nun selbst als Figur in den Fokus, und zwar gleich in seiner größten Verwundbarkeit: als leise verzweifelter Mittfünziger, der bei einem Ausflug in die Welt der politischen Spin Doctors von Whitehall gerade böse unter die Räder gekommen ist. Genauso ist es dem echten Sixsmith auch in Wirklichkeit ergangen.

Und weil Steve Coogan sich die Rolle dieses Sixsmith selbst auf den Leib geschrieben hat, ist es schon herrlich anzusehen, wie er die eigene Figur hier quält und erst einmal ins Zwielicht rückt. Damit spielt der Film "Philomena" gleich in einer ganz anderen Liga als das Buch.

An der Grenze zur Satire

Die eigentliche Geschichte geht los, als die Tochter von Philomena Lee, die eben erst vom Geheimnis ihrer Mutter erfahren hat - und damit von einem Bruder, von dem sie nie etwas ahnte - Sixsmith auf einer Party anspricht. Sie habe gerade mitgehört, er sei doch Journalist, und sie kenne da diese Frau mit einer bewegenden Geschichte . . . Den unbezahlbaren Ausdruck, den sie damit auf Coogans Gesicht zaubert, kann man kaum beschreiben - der Biss in eine saure Zitrone ist nichts dagegen.

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"Human Interest Stories" seien Stories über "willensschwache, verwundbare, ungebildete Menschen, die wir in Zeitungen für willensschwache, verwundbare, ungebildete Menschen abdrucken", sagt Sixsmith im Film.

(Foto: dpa)

Dies sei eine "Human Interest Story", antwortet Sixsmith hastig, so was mache er grundsätzlich nicht. Und auf die verwunderte Rückfrage, was am Interesse für die Mitmenschen denn falsch sein könne, erlaubt er einen kurzen Blick in die Abgründe des britischen Journalismus: "Wir benutzen diesen Ausdruck als Euphemismus. Für Stories über willensschwache, verwundbare, ungebildete Menschen, die wir in Zeitungen für willensschwache, verwundbare, ungebildete Menschen abdrucken."

Ein monströser Satz, an der Grenze zur Satire, den der wahre Martin Sixsmith natürlich nie gesagt hat. Dramaturgisch ist das allerdings ein brillanter Schachzug. Der arrogante Blick, ganz von oben herab - hier wird er aufgegriffen und gleichsam ins Rückenmark des Films eingepflanzt, nur um dann triumphal überwunden zu werden. Als Mittel der Distanzierung steht er damit den Zuschauern nicht mehr zur Verfügung.

Zugleich sind nun maximale Gegensätze aufgemacht. Der abgehalfterte Medienzyniker und die suchende Mutter werden als erstaunliches - und gelegentlich wirklich sehr komisches - Odd Couple zusammenfinden und auf die Reise gehen. Philomena wird dabei zeigen, was angeblich willensschwache, verwundbare und ungebildete Menschen an Kraft und Humor entfalten können, während der kühle Reporter noch jede Contenance verlieren und einen heiligen Zorn entwickeln wird - angesichts der Verbrechen der katholischen Kirche, die sich vor seinen Augen auftun.

Unerwartete Kraftreserven

In der Rolle der Philomena lässt Dame Judi Dench sofort vergessen, dass sie je in einem James-Bond-Film mitgespielt hat. Die Dauerwelle ein wenig zu hoch getürmt, die große Handtasche fest umklammert, der Gang schon etwas eckig vom sturen Weiterstapfen durch alle Zumutungen des Lebens - mit sparsamsten Mitteln umreißt sie die enge Welt, in der ihre Figur all die Jahrzehnte gelebt hat. Gleichzeitig aber ahnt man auch die unerwarteten Kraftreserven, die sie mobilisieren kann - nun, da ihre Suche sie zurück in ihre irische Heimat und weiter bis nach Amerika führt, wo der Sohn vielleicht aufgespürt werden kann. Es versteht sich fast von selbst, dass Judi Dench dafür wieder bei den Oscars im Rennen ist.

Und mit welcher Geschwindigkeit und Eleganz gerade die Anfänge der Geschichte erzählt werden, wie hingetuscht mit ein paar cineastischen Pinselschwüngen - das ist wiederum ein großer Moment für den Regisseur Stephen Frears.

Terrorsystem hinter Klostermauern

Da sieht man die achtzehnjährige Philomena auf einem Jahrmarkt in Limerick, wo sie sich selbst belustigt im Zerrspiegel betrachtet, und dann taucht hinter ihr dieses gutaussehende Männergesicht auf. Es folgen ein paar fröhliche Flirtsätze, ein kandierter Apfel wird angebissen wie die verbotene Paradiesfrucht, ein Kuss mit Zuckerlippen, dann fällt er ins Stroh . . . und im nächsten Moment steht die hochschwangere Philomena schon vor den Nonnen, die sie verhören. Die Schulschwestern im Internat hätten ihr nie etwas über das Kinderkriegen erzählt, jammert sie, und ihre Mutter sei lange tot - so macht Frears beiläufig klar, wie der lebensfeindliche Zugriff der Kirche diese Frau von Anfang an ins Unglück gestürzt hat.

Was sich dann enthüllt, ist ein wahres Terrorsystem, historisch verbürgt, das auch für die Feigheit des irischen Staats vor der Macht der katholischen Kirche steht: Ein Pfund pro Woche kassierten die Nonnen damals vom Steuerzahler für die Betreuung unverheirateter Mütter, deren "Schande" hinter Klostermauern versteckt werden sollte. Zugleich wurden diese von den Schwestern gezwungen, alle Elternrechte notariell aufzugeben - sodass die Kinder dann gegen großzügige "Spenden" von wohlhabende Ehepaaren aus Amerika abgeholt werden konnten.

Abschied nicht vorgesehen

Aber damit nicht genug, die Kirche kassierte ein drittes Mal: Hundert Pfund verlangte sie von den Gebärenden dafür, ihnen Unterschlupf zu gewähren - medizinische Versorgung nicht inbegriffen, denn die gab es nicht, und wenn Komplikationen bei der Geburt zum Tod führten, war das eben die gerechte Strafe Gottes. Da die wenigsten Frauen die damals enorme Summe aufbringen konnten, folgten noch drei Jahre unbezahlte Sklavenarbeit im Kloster - mit nur einer Stunde Freizeit pro Tag, in der die Mütter ihre Kinder sehen durften. Fuhr jedoch eine Limousine mit adoptionswilligen Amerikanern vor, war ein Abschied gar nicht mehr vorgesehen - so hat auch Philomena ihren Sohn verloren.

Angesichts dieser Zustände, und angesichts der Verbissenheit, mit der die überlebenden Nonnen dann noch ihre Taten verschleiern, Unterlagen vernichten und die Wiedervereinigung von Müttern und Kindern hintertreiben, ja sogar noch immer gegen die "fleischliche Inkontinenz" der Mädchen keifen - da gerät der kühle BBC-Journalist dann doch mal in alttestamentarische Wut: "Wenn Jesus hier wäre, würde er Sie aus Ihrem Rollstuhl stoßen", zischt er eine böse, steinalte Nonne einmal an. Er spricht den Filmemachern erkennbar aus der Seele.

Nur Philomena Lee scheint keinen Hass zu spüren - sie weist immer wieder darauf hin, dass manche dieser Nonnen auch warmherzig und verständnisvoll waren, ihre Verbündeten hinter den Klostermauern. Sie will vor allem Frieden finden, und am Ende wird sie tatsächlich ihrem Sohn noch einmal begegnen - wenn auch ganz anders als gedacht. Was aus ihrem Jungen in Amerika wurde, ist noch einmal eine ganz eigene Geschichte - und auch die entspricht den Tatsachen.

Die besondere Klasse von "Philomena" liegt aber darin, dass die Filmemacher sich nicht einfach auf die unglaubliche Wahrheit verlassen haben. Der größte Teil ihrer Arbeit bestand darin, auch noch die bestmögliche Form dafür zu finden.

Philomena, GB 2013 - Regie: Stephen Frears. Buch: Steve Coogan, Jeff Pope. Kamera: Robbie Ryan. Musik: Alexandre Desplat. Mit Dame Judi Dench, Steve Coogan, Sophie Kennedy Clark. SquareOne/Universum, 98 Min.

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