Philologie & Welt:Die Sprache und das Getrenntsein

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"Was zu sagen bleibt": Wer jetzt die Aufsätze des im Jahr 2017 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Werner Hamacher liest, dem erscheint die Philologie als Disziplin der Stunde.

Von Philipp Stadelmaier

Wir haben gerade viel Zeit. Zum Lesen, zum Nachdenken und Fragenstellen. Wie sollen wir diese Krise überstehen? Und wie mit anderen darüber sprechen, uns ihnen mitteilen, mit ihren Mitteilungen umgehen? Der 2017 verstorbene, international renommierte Literaturwissenschaftler Werner Hamacher hätte gesagt: Dieses Fragen macht uns zu Philologen, weil Philologen Fragen stellen, ohne sich je auf eine Antwort verlassen zu können. Vielleicht ist also gerade jetzt die Zeit, Hamachers "Was zu sagen bleibt" zur Hand zu nehmen. Der postum erschienene Band vereint drei Schriften, in denen sich Hamacher mit diesem seltsamen Ding namens Philologie auseinandersetzt. Die vergriffenen Texte "Für - die Philologie" und "95 Thesen zur Philologie" werden neu zugänglich gemacht, der Aufsatz, der dem Band seinen Namen gibt, liegt hier erstmals auf Deutsch vor.

"Für - die Philologie" ist eine energische Verteidigung der Eigenständigkeit der Philologie. Für Hamacher ist sie nicht einfach eine wissenschaftliche Disziplin neben der Linguistik, der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder der Rechtswissenschaft. Wo sie sich deren "fugendichten Erklärungssystemen" fügt oder zu ihrer reinen Hilfswissenschaft verkümmert, unterwirft sie sich einem "antiphilologischen Affekt". Dem stellt Hamacher den Entwurf einer "anderen Philologie" entgegen, die in jeder Definition diese auch wieder auflöst, sich weniger für Aussagen interessiert als für das Unverständliche und Unverstehbare in Sprache und Literatur. Denn Philologie ist, als Sprechen über Sprache, selbst schon Sprache - womit sie ihren Gegenstand niemals ganz einholen kann. Aus diesem Grund setzt sie sich über jede Erkenntnis, jeden Glaubenssatz und überhaupt alles Gesagte hinweg. Sie erwartet stets mehr von der Sprache, als diese je sagen könnte.

Was er beschreibt, vollzieht er auch in seinem Schreiben selbst

Aus diesem Grund versteht Hamacher Philologie als Versuch, "den Gedanken einer Sprache in Bewegung zu halten, die sich jeder Feststellung entzieht". Und indem sie fragt, nähert sie sich dem, was sie niemals haben kann, nur an. Sie ist Freundschaft, Hinwendung, Liebe "der Sprache zur anderen Sprache und zu anderem als Sprache". Daher die Wichtigkeit des "Für", die Hamacher herausarbeitet. Philologie spricht "für" dasjenige, was frei von jeder Bestimmung bleiben muss.

Seinen Begriff von Philologie entwickelt Hamacher aus einer unerbittlich genauen Lektüre vor allem von Dichtung. So ist das "Für" einem nachgelassenen Gedicht von Paul Celan abgelesen, in dem Hamacher im Wort "für" ein Wort für ein Wort erkennt, das immer nur "als von sich Unterschiedenes und aus seiner Entfernung von sich" spricht. Überhaupt gilt: Was Hamacher beschreibt - ein fortgesetztes Annähern an einen sich entziehenden Gegenstand - vollzieht er in seinem Schreiben selbst. Das zeigt allein der Satz: "Noch einmal: die Philologie setzt fort", der in zahlreichen Variationen in allen Texten wiederkehrt. Die durchnummerierten "Thesen", deren Anzahl wie bei Luther fünfundneunzig ist, beginnen mit der Feststellung: "Die Elemente der Sprache erläutern einander" - ebenso wie sich die Thesen untereinander kommentieren und ergänzen.

Gerade die "Thesen" demonstrieren die Pausen, Leerstellen und Intervalle, denen Hamachers besondere Aufmerksamkeit galt. "Was geschieht, ist Abschied", so der vollständige Wortlaut der These 34, nachdem schon These 32 dieses Abschiedsgeschehen im linearen Erzählen entfaltet. Die Aufgabe der Philologie besteht darin, in jedem "und dann" ein "nicht mehr" und damit ein "nicht" aufzuweisen. Erst von diesem "Nicht" ausgehend entsteht die Sequenzialität von Geschichtsschreibung. These 48 radikalisiert diesen Gedanken: Sie ist leer, freigestellt von jeder Verpflichtung, irgendetwas sagen zu müssen.

Im dritten Aufsatz, "Was zu sagen bleibt", antwortet Hamacher auf eine Fachdiskussion, die seine "95 Thesen zur Philologie" vor allem in den Vereinigten Staaten ausgelöst hatten. Die Debattenbeiträge von Literaturwissenschaftlern wie Avital Ronell, Daniel Heller-Roazen und Peter Fenves sind in dem Band zwar nicht enthalten, aber Hamacher zitiert und diskutiert sie akribisch. Diese Diskussion ist für ihn eine Gelegenheit, gerade dem "Genealogisierungseifer" seiner Kommentatoren entgegenzutreten, also der Suche nach intellektuellen Einflüssen auf seinen Entwurf einer "anderen Philologie". Die Verwandtschaft seines Projektes mit den Werken von Walter Benjamin, Martin Heidegger, Maurice Blanchot, Jacques Derrida oder Paul de Man versteht Hamacher als Bezugnahmen, die immer auch die Möglichkeit ihrer Veränderung oder Auftrennung mit sich führen.

Sprache ist Getrenntsein. Aber sie ist zugleich das verbindende Element aller Sprechenden, die Möglichkeit ihrer Zuneigung untereinander. Diese Verankerung der Zuneigung zwischen immer anderen Sprachen und Sprechenden ist Hamachers großer Wurf. Alle Sprachen sind anders, ebenso wie jede Quarantäne anders ist. Wir sollten heute alle Philologen werden, mehr denn je.

Werner Hamacher: Was zu sagen bleibt. Urs Engeler Verlag, Basel 2019. 208 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 03.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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