Diese Geschichte kommt ohne die Geschichte aus. Zumindest versucht sie das. Es ist die Geschichte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Doch dieser Blickwinkel ist bereits der erste Fehler gewöhnlicher Erzählungen jener Epoche. So sieht es jedenfalls Philipp Blom. Daher verändert der Wiener Historiker die Perspektive.
Kein Idyll, keine "gute alte Zeit" vor dem "Sündenfall", keine "Belle Époque" leuchtet hier auf. Bloms Welt ist eine andere. Es ist die Welt der Menschen im damaligen Europa. Ihre Briefe, Tagebücher, Romane, Zeitungen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen lassen bei Blom eine alte Epoche neu erstehen, die der heutigen verblüffend ähnlich scheint: Sie ist erfüllt von Unsicherheit und Erregtheit.
Die Gespräche der Menschen und die Zeitungsberichte sind geprägt von Themen, die auch die Agenda des frühen 21. Jahrhunderts dominieren: neue Technologien, Globalisierung, Terrorismus, neue Formen der Kommunikation und Veränderungen im Sozialgefüge. Auch damals ist das allgemeine Gefühl weit verbreitet von einem Leben in einer sich mehr und mehr beschleunigenden Welt, die ins Unbekannte rast.
Blom lädt nicht nur ein auf eine Reise in diese faszinierende Zeit. Er wagt zugleich ein Gedankenexperiment: Der Leser soll sich vorstellen, er wisse nichts vom Mord in Sarajevo, von der Schlacht an der Somme, vom Börsenkrach, von der Reichspogromnacht, von Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima, den Gulags, Vietnam oder der Berliner Mauer. Er soll vielmehr die Jahre von 1900 bis 1914 ohne die langen Schatten der Zukunft sehen, sie allein als lebendige Momente in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit und vor allem mit ihrer noch immer offenen Zukunft betrachten.
Das Tableau, das Blom hier sprachgewaltig entfaltet, hat in der Tat seine Reize. Mit ihm sind noch einmal Leistungen monumentaler Größe zu bewundern: Sigmund Freud beginnt, die dunklen Seiten der Seele zu erforschen. Die Physik entlockt der Materie das Geheimnis der Atome. Die Malerei befreit sich von den Gegenständen. Die europäische Aristokratie verabschiedet sich nach und nach von der öffentlichen Bühne.
Aggression und Verunsicherung
In den Jahren zwischen der Weltausstellung von 1900 und August 1914 durchleben die Europäer einen grundlegenden Wandel, der alle Bereiche ihres Alltags, ihrer Kunst, ihrer Wissenschaft und nicht zuletzt ihrer Politik erfasst. Das Kind dieser Epoche ist das moderne Europa - eine Kultur, der alle Gewissheit fragwürdig ist und die in eine offene, vollkommen ungewisse zukünftige Zeit treibt.
Als zentrale Umwälzung behandelt Blom dabei den Wandel im Verhältnis zwischen Mann und Frau. Patriarchalische Strukturen werden von Frauen in Frage gestellt, die zum ersten Mal in der europäischen Geschichte in größerem Rahmen Zugang zu Schulbildung und zu Universitäten haben, ihr eigenes Geld verdienen und nicht nur das Wahlrecht und effektive Empfängnisverhütung verlangen, sondern zum Teil auch eine völlige Umgestaltung der Gesellschaft. Sie weisen nicht zuletzt darauf hin, dass die traditionellen männlichen Eigenschaften - körperliche Kraft, kriegerische Tugenden - in einer industriellen Gesellschaft bedeutungslos geworden sind.
Die Männer wiederum reagieren oftmals mit Aggression und Verunsicherung: Niemals zuvor waren auf den Straßen so viele Uniformen zu sehen. Niemals zuvor wurden so viele Duelle ausgefochten. Niemals zuvor gab es in den Zeitungen so viel Werbung für Behandlungen, die versprachen, "Männerkrankheiten" und "Nervenschwäche" zu heilen. Und nie zuvor wurden so viele Männer mit Symptomen wie Erschöpfung und "Nervosität" in Sanatorien und Krankenhäuser eingewiesen - Phänomene, die vor einigen Jahren Joachim Radkau in seinem Buch "Das Zeitalter der Nervosität" beschrieben hat.
Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie die Männlichkeit in Frage gestellt wird.
Heute werden Identitäten zwar anders hinterfragt. Unsicherheiten artikulieren sich auf andere Weise. Aber Blom weist zu Recht auf eine historische Parallele hin: Auch gegenwärtig ist die globale politische Landschaft geprägt von in Frage gestellter Männlichkeit.
Nicht zuletzt Wut über den "arroganten Westen" und die Wirtschaftsmacht der ehemaligen Kolonialmächte, die andere Regionen der Welt ökonomisch und kulturell "kastrieren", bringt junge Muslime dazu, die Mannbarkeit ihrer Kultur beweisen zu wollen und zu Selbstmordattentätern zu werden. In ihnen sieht Blom ein Echo des jungen 20. Jahrhunderts, auch wenn es damals russische Anarchisten waren, die Mitglieder der russischen Regierung als "lebende Bomben" angriffen.
Die Unsicherheit über die männliche Identität drückte sich um 1900 nach Bloms Beobachtung auf vielfältige Art aus: Der Rückgang der Geburtenrate, besonders in der bürgerlichen Schicht, war ein vieldiskutiertes Indiz, das polemische Autoren zu der Behauptung verleitete, "zivilisierte" Weiße würden schon bald von den "niederen Klassen" und den dunkelhäutigen Menschen der Kolonien verdrängt. Auch hier werden Erinnerungen wach an jüngste Debatten, geprägt von Panik angesichts der Geburtenraten von muslimischen Immigranten in Europa, der Prognosen zur Explosion der Weltbevölkerung und der nachlassenden Fruchtbarkeit von Männern in den industrialisierten Staaten.
In der Offenheit einer Zukunft, die zugleich ungewiss, verheißungsvoll und bedrohlich ist, sieht Blom eine weitere Parallele dieser Epoche zur Gegenwart. Was zunächst eher banal erscheinen mag, entpuppt sich als entscheidend für das Verständnis der heutigen Zeit: Zwischen 1910 und '14 war nicht abzusehen, welche der politischen Mächte erfolgreich sein würde, welche Gesellschaft aus der Transformation alles bis dahin Bekannten erwachsen würde.
Ungewissheit, Erregung
Nach Europas zweitem Dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945 existierte für ein halbes Jahrhundert keine offene Zukunft. Im Kalten Krieg erschienen die Alternativen klar. Es ging allein darum, welche der beiden ideologischen Systeme, Kommunismus oder Kapitalismus, den Sieg davontragen würde. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte die offene Zukunft zurück, und mit ihr die Erregung und Ungewissheit der Jahre 1900 bis 1914, als alles möglich erschien.
Einen großen Teil der heutigen Verunsicherungen führt Blom auf Erfindungen, Gedanken und Veränderungen zurück, die in eben jenen kreativen fünfzehn Jahren entstanden. Dabei hält er es nicht für übertrieben zu sagen, dass alles, was im 20. Jahrhundert wichtig werden sollte - von der Quantenphysik bis zur Frauenrechtsbewegung, von abstrakter Kunst bis zur Genetik, von Kommunismus und Faschismus bis zur Konsumgesellschaft, vom industrialisierten Mord bis zur Macht der Medien -, zwischen 1900 und 1914 erstmals seine Massenwirkung entfaltete oder sogar erst erfunden wurde.
Zwar trifft historisch zu, dass in all dem Neuland betreten wurde. Aber dass "der Rest des Jahrhunderts wenig mehr war als eine Abwicklung und Auslotung dieser Möglichkeiten", erscheint dann doch etwas gewagt.
Die Ironie dieser Übertreibung: Indem Blom den Bogen seiner Deutung der Jahre 1900 bis 1914 leicht überspannt, beweist er unfreiwillig, dass auch seine Erzählung des frühen 20. Jahrhunderts nur mit ihrer historischen Einordnung in die Zeit nach 1914 vollends zu verstehen ist. Die vielen zutreffenden Parallelen, die er zur Gegenwart zieht, schaffen ohnehin einen gesamtgeschichtlichen Rahmen, aus dem die Kriege und Verbrechen des 20. Jahrhunderts gleichfalls nicht wegzudenken sind.
Bloms großes Verdienst bleibt indes, erahnbar gemacht zu haben, aus welch kreativer Dynamik die Weltkriege die Menschheit für ein halbes Jahrhundert gerissen haben. Doch auch diese Geschichte kommt ohne die Geschichte nicht aus.
PHILIPP BLOM: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. Carl Hanser Verlag, München 2009. 528 S., 25,90 Euro.