Philip Roth: neuer Roman:Amerika in der Hölle

Erdrückende Vaterliebe, Keuschheitsgelübde und religiöser Wahn: Philip Roths neuer Roman "Empörung" gleicht einem Nachruf auf die Ära Bush.

Gustav Seibt

Dicht gefügt wie eine klassische Novelle und unaufhaltsam wie eine Schicksalstragödie kommt Philip Roths kurzer, wuchtiger Roman "Empörung" daher. Der erste lange Satz, der Geschichte und Autobiographie verkettet, klingt nach neunzehntem Jahrhundert: "Ungefähr zweieinhalb Monate nachdem die gutausgebildeten, von den Sowjets und den chinesischen Kommunisten mit Waffen ausgerüsteten Divisionen Nordkoreas am 25. Juni 1950 über den 38. Breitengrad vorgedrungen waren und mit dem Einmarsch in Südkorea das große Leid des Koreakrieges begonnen hatte, kam ich aufs Robert Treat, ein kleines College in Newark, benannt nach dem Mann, der die Stadt im siebzehnten Jahrhundert gegründet hatte."

Philip Roth: neuer Roman: Behandelt in "Empörung" die Grundgebrechen der Präsidentschaft Bush: Autor Philip Roth.

Behandelt in "Empörung" die Grundgebrechen der Präsidentschaft Bush: Autor Philip Roth.

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Die Tragödie, die sich auf den folgenden zweihundert Seiten entwickelt, besteht aus der Engführung der beiden Linien dieses ersten Satzes: Der Ich-Erzähler muss nach Korea, wo er beim ersten Kriegseinsatz verblutet und als knapp Zwanzigjähriger stirbt. Dass er überhaupt eingezogen wird, verdankt er seiner vorzeitigen Entlassung aus einem College - es ist ein anderes als das "Treat" des ersten Satzes -, dessen bigotten Regelwerken er sich nicht zu fügen vermochte. Und dass Marcus Messner, der todgeweihte Held von "Empörung", überhaupt auf die ihm nicht gemäße Hochschule im fernen Ohio geflohen ist, ist die Schuld seines liebenden Vaters, dessen pathologische Besorgtheit der junge Marcus nicht ertrug.

Den uhrwerkhaften Plot dieser Geschichte kann man vom Anfang oder vom Ende her erzählen, er dreht sich im Kreis wie der "König Ödipus" des Sophokles: Der erste Beweggrund ist grenzenlose, verrückte Vaterliebe, die das Unheil, das sie fürchtet, erst in Gang setzt.

Marcus Messners Vater, ein fleißiger koscherer Metzger, erträgt den Gedanken an die tausendfältigen Gefahren nicht, denen sein begabter, liebenswürdiger und gleichfalls eisern arbeitsamer Sohn beim Erwachsenwerden und beim Aufsteigen in einen akademischen Beruf ausgesetzt sein könnte: Also beginnt er ihn zu überwachen und einzusperren, zu fesseln und zu kontrollieren, sodass dieser keinen anderen Ausweg sieht, als die freundlich schützende Hülle seiner kleinbürgerlichen jüdischen Herkunftswelt vorzeitig zu verlassen und sein Glück auf einer Hochschule im fernen Ohio, mitten im "Bible Belt" des mittleren Westens, zu suchen. Dort trifft er auf genau die Gefahren, vor denen sein Vater ihn hatte schützen wollen.

Dabei weiß Marcus, der nichts lieber täte, als den Wünschen seines Vaters zu entsprechen, dass nur unbezweifelbarer Erfolg und beste Noten ihn vor der Einberufung auf den neuen Kriegsschauplatz schützen können, die er nicht weniger fürchtet als sein Vater. Aber auch hier wirkt die tragische Handlungslogik: Die Vorsicht, mit der Marcus sich von seiner Umwelt abschließt, um sich ganz auf seinen Studienerfolg konzentrieren zu können, macht ihn einer christlichen Universitätsleitung auffällig, die auch Außenseiter in ein von Gebetsstunden skandiertes Gemeinschaftsleben einbinden möchte.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was ein Blowjob mit Marcus Messners Tod zu tun hat.

Amerika in der Hölle

Dazu kommen die sexuellen Nöte in einer von Keuschheit geprägten Lebensform, die jede voreheliche Annäherung zwischen den Geschlechtern als Sünde brandmarkt. Das fromme Gesetz von Gemeinschaft und Enthaltsamkeit, das in Ohio herrscht, bringt die beiden ungeheuren Begebenheiten hervor, die das Leben von Marcus auf die Katastrophe zustürzen lassen: Den weltanschaulichen Ausbruch bei einer fürsorglichen Vernehmung durch den Dekan der Universität, dem Marcus seitenlange wörtliche Zitate aus Bertrand Russels Essay "Warum ich kein Christ bin" entgegenschleudert; und die rauschhafte Erfahrung eines Blowjobs, den ihm eine begehrte Mitstudentin überraschend gewährt.

Philip Roth: neuer Roman: Tragödie in der totalitären Frömmigkeit: Philip Roths neuer Roman "Empörung".

Tragödie in der totalitären Frömmigkeit: Philip Roths neuer Roman "Empörung".

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Ein dummer Fehler

Die Affäre mit der Studentin, die psychisch krank und selbstmordgefährdet ist, fällt ebenso auf wie die atheistische Aufsässigkeit. Aber weder das eine noch das andere sind Entlassungsgründe. Die Relegation, der Weg in den Tod, hat in dieser Welt der Bigotterie einen viel beiläufigeren Anlass: Bei einer wöchentlich verpflichtenden christlichen Andacht lässt Marcus Messner gegen ein kleines Entgelt einen Stellvertreter in seinem Namen auftreten, was nur auffällt, weil er als Person zuvor selbst so auffällig geworden war. Der Ticketschwindel, nicht Bertrand Russel oder der Blowjob bringt das Todesurteil. Wieder ein klassisches Motiv: Die tragische Notwendigkeit bedient sich eines dummen Fehlers, eigentlich des Zufalls.

Man dürfte dem Leser diese furchtbare Geschichte nicht so detailliert vorwegerzählen, wenn ihr Räderwerk das Wesentliche dieses schmalen Buches ausmachte, das an diesem Mittwoch auch in Deutschland erscheint. So beeindruckend, bis ins Detail ausgefeilt seine Konstruktion ist, viel wichtiger ist die mit minimalem Aufwand erzeugte überwältigende Düsternis seiner Atmosphäre und die geschichtliche Diagnose, die sie enthält. Die beiläufig daherkommende Meisterschaft, die der erfahrenste Schriftsteller Amerikas beweist, kommt vor allem einem geschärften historischen Bewusstsein zugute. "Empörung" ist nach "Verschwörung gegen Amerika" von 2004 das zweite Buch, in dem Philip Roth die Bilanz der Ära Bush zieht.

Religiöser Irrsinn in den USA

In der Alternativgeschichte, die Roth in "Verschwörung gegen Amerika" erzählte, entwickelte er die Möglichkeit eines amerikanischen Faschismus, den Sieg des antisemitischen Präsidentschaftskandidaten Charles Lindbergh im Jahre 1940 mit allen denkbaren Folgen. Das Amerika der staatlich approbierten Folter, des Sicherheitswahns und der isolationistischen Selbstabschließung kam ins Bild und erinnerte die Leser an die fortbestehende Möglichkeit der freiheitsfeindlichen Abweichung. "Empörung" verhandelt nun das zweite Grundgebrechen der Präsidentschaft von George W. Bush: Die totalitär gewordene, zum sozialen Zwang werdende Frömmigkeit.

Der aktuelle Obama-Rausch darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Welt der Sarah Palin der religiöse Irrsinn - die Vorstellung, voreheliche Keuschheit sei ein zentrales politisches Problem der Vereinigten Staaten von Amerika - überraschend nah am Griff nach der Macht war. "Empörung" zeigt nun den Amerikanern und dem internationalen Publikum die amerikanische Gesellschaft vor den Emanzipationen der sechziger Jahre, mit ihrer überkommenen ethnischen und konfessionellen Versäultheit, ihrer Verklemmtheit und ihrem Sektengeist. Die tragische Kausalität entwickelt sich nicht nur in diesem Roth-Roman aus geschichtlichen Faktoren, und also, so muss man es verstehen, aus Möglichkeiten, die offenkundig wiederkehren können.

Sünder in alle Ewigkeit

Marcus Messner, der gute Sohn und tüchtige Aufsteiger, der sich aus den Fesseln der rührenden jüdischen Familienliebe und des eisernen Sektenzwangs befreien möchte, mag am Ende der überzeugendere Amerikaner sein. Doch im Jahre 1951 unterliegt er und stürzt in eine Dantesche Hölle. Dort müssen die Sünder den Moment ihrer Verfehlung in alle Ewigkeit wiedererleben. Marcus Messner, so erfahren wir kurz vor der Mitte des Romans, erzählt seine Geschichte aus dem Jenseits; wir hören einem Gestorbenen zu. Die Hölle, das ist hier die sich ewig erneuernde Kausalität mit ihren großen Ursachen und dummen Zufällen. Die dichte Fügung der Erzählung schließt das Gefängnis der Zeit, die Uhr geht im Kreis. Das ist der Schlaf der Vernunft im amerikanischen Traum.

Philip Roth: Empörung. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München 2009. 201 Seiten, 17,90 Euro.

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