Philharmoniker in der NS-Zeit:Musizieren nach "Führerprinzip"

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Kein verwienertes Berlin, kein verberlinertes Wien: Mit dem Anschluss Österreichs im Jahr 1938 hatte das Deutsche Reich zwei Philharmonien, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Ein neues Buch beschreibt, wie Goebbels das Problem löste: Mit Großzügigkeit und außerordentlichen Privilegien - nach wie vor durfte sich jedes Orchester für das weltbeste halten.

Stephan Speicher

Im Frühjahr 1897 gastieren die Berliner Philharmoniker in Wien. Das Orchester ist gerade 15 Jahre alt, aber es tritt mit Anspruch auf, an sechs Abenden hintereinander unter der Leitung von drei der bekanntesten Dirigenten der Zeit: Mottl, Nikisch, Weingartner. Dem Wiener Fremdenblatt missfällt das. Wer wäre wohl so "massenhaft gebotenen Genüssen" gewachsen?

Wilhelm Furtwängler dirigiert 1942 ein Werkskonzert der Berliner Philharmonikern. (Foto: SCHERL)

Die Neue Freie Presse ist ähnlich unglücklich: Dies zwanghafte "Gastiren und Wettdirigiren" degradiere das Orchester zur Maschine. Der Wettbewerb des Wiener und Berliner Musiklebens und seiner beiden großen Orchester ist eröffnet, und schon stehen die Selbst- und Fremdzuschreibungen bereit, mit denen man ein gutes Jahrhundert die beiden Städte beurteilen wird.

Wien zeigt sich ruhig, human, traditionsbewusst. Berlin ist modern, sportiv, technisch glänzend, eine Stadt des Massenzeitalters. Und so ist auch seine Musik, so sind die Berliner Philharmoniker. Alles wirkt angespannt. Roda Roda wird später schreiben: ohne Schweiß kein Preuß.

So klischeehaft das Wiener Urteil erscheint, es lassen sich Tatsachen dafür geltend machen. Die Berliner Philharmoniker nehmen gleich nach ihrer Gründung eine ausgedehnte Reisetätigkeit auf, sie bemühen sich um die neuen medialen Möglichkeiten und beginnen das Plattengeschäft. Und sie spielen regelmäßig populäre Konzerte.

Das alles wehren die Wiener Philharmoniker ab. Manches liegt an den äußeren Bedingungen. Sie sind im Hauptberuf Mitglieder des Hof- oder Staatsopernorchesters, das zieht der Konzerttätigkeit Grenzen. Aber sie wollen es auch so. Sie bestehen auf dem Kanon der großen Werke, für Experimente mit zeitgenössischer Musik geben sie sich nicht gern her. Reisen, Schallaufnahmen, das widerstrebt ihnen.

Und ein zweites Gegensatzpaar bildet sich schon Ende des 19. Jahrhunderts heraus. Die Berliner Philharmoniker beanspruchen, Repräsentant deutscher Musik- und Orchesterkultur zu sein, Maßstab nach innen, Botschafter nach außen. Die Wiener Philharmoniker beziehen sich auf die Musikkultur ihrer Stadt, sie sprechen sich einen besonderen wienerischen Klang zu, abgerundet, weich, wie es dem harmonischen Sinn der Stadt entspreche.

Keine Verständigung auf eine maßstabsetzende deutsche Kultur

Ihr Selbstbild entsteht in der Abgrenzung gegen Berlin; Hofmannsthals Schema "Preuße und Österreicher" von 1917 scheint durch. Politisch ging es wohl gar nicht anders. Die Völker der Habsburger-Monarchie konnten sich vielleicht noch auf Wien als ihre Hauptstadt verständigen, gewiss aber nicht auf eine maßstabsetzende deutsche Kultur.

Man muss schon von Markenbildung sprechen, die die beiden Orchester betrieben. Diese Marken waren so stabil, dass sie selbst den Nationalsozialismus überlebten. "Politisierte Orchester" heißt eine neue Untersuchung über die Wiener und Berliner Philharmoniker im Nationalsozialismus. Der Autor, Fritz Trümpi, der mit dieser Arbeit an der Universität Zürich promoviert wurde, hat das Archivmaterial gründlich umgegraben; er hat auf dem ja keineswegs gerade erst entdeckten Feld der klassischen Musik im "Dritten Reich" einiges Neue beizutragen.

Die Berliner Philharmoniker hatten in den späten 1920er Jahren die wirtschaftliche Basis ihrer Selbständigkeit eingebüßt und mussten um öffentliche Subventionen bitten. Ihre Argumentation war nationalpolitisch. So betonte Furtwängler 1932, dass während des Streits um die deutschen "Tribute" Paris den Berliner Philharmonikern und ihrem "rein deutschen Programm" einen "bedingungslosen Erfolg" bereitete. Tatsächlich erklärten sich Berlin und das Reich bereit, die Philharmoniker zu unterstützen. Damit war deren Unabhängigkeit allerdings schon vor dem 30. 1. 1933 verloren.

Goebbels, der die Philharmoniker seinem Ministerium unterordnete, hatte sogleich alle Möglichkeiten. Er setzte das "Führerprinzip" durch, mit der Selbstregierung des Orchesters war es vorbei. Die jüdischen Musiker - es waren nur vier! - wurden entlassen, allerdings wohl gegen den Widerstand des Orchesters und Furtwänglers.

Im Übrigen wurde das Orchester mit vorzüglicher Hochachtung behandelt. Die Gehälter stiegen auf eine einmalige Höhe (bald folgte die Preußische Staatskapelle dorthin) und im Krieg wurden die Musiker unabkömmlich gestellt, also nicht zur Wehrmacht eingezogen.

Mit dem sogenannten Anschluss 1938 hatte das Reich zwei Orchester, die sich für das weltbeste hielten. Das kleine Problem löste Goebbels durch Großzügigkeit. Die Wiener Philharmoniker durften ihren Vereinsstatus behalten - das war ein ganz ungewöhnliches Privileg -, mussten aber "Führer- und Rasseprinzip" anerkennen.

Das taten sie, elf jüdische Musiker wurden ausgeschlossen, anscheinend ohne nennenswerten Widerwillen. Darauf genossen die Philharmoniker den größten Respekt und wurden den Berliner Kollegen gleichgestellt in Besoldung und UK-Stellung. Die örtlichen Eigentümlichkeiten blieben unangetastet: "kein verwienertes Berlin, kein verberlinertes Wien".

Dass die Wiener Philharmoniker sich früh schon als Vertreter nicht der Nation, sondern der Stadt gesehen hatten, passte bestens. Ab 1933, im Austrofaschismus, war daran weiter gearbeitet worden, durch die verstärkte Walzer-Pflege zum Beispiel. Das setzte sich im Nationalsozialismus fort, die Neujahrkonzerte wurden zum ersten Mal beim Jahreswechsel 1939/40 gespielt. Beide Orchester passten sich an, sie wurden zu Instrumenten der Außenpolitik durch Tourneen in den besetzten Ländern und den neutralen Staaten.

Ein Moment bürgerlicher Tradition

Jüdische Komponisten und die "Neutöner" waren selbstverständlich gebannt, Wagner und Bruckner wurden öfter gespielt. Darüberhinaus lässt sich eine nationalsozialistische Musikpolitik nicht recht erkennen. Im Übrigen wahrten die beiden Orchester ihr Profil. Die Wiener etwa beschränkten sich wie gehabt auf die kanonisierten Werke und pflegten das genuin Wiener Repertoire, die Berliner stellten immer wieder Zeitgenössisches vor.

Die Privilegien, die beide Orchester bis in die letzten Tage des Nationalsozialismus genossen, entsprangen mehr den musikalischen Interessen des nationalsozialistischen Führungspersonals als propagandistischen Zwecken. So zeigt sich hier eher ein Moment bürgerlicher Tradition als genuin nationalsozialistischen Denkens. Im Rundfunk etwa wurde der Anteil klassischer Musik nach 1933 gekürzt, Goebbels kalkulierte den Bildungswunsch seiner Volksgenossen niedrig und hatte wohl recht damit. Eine Umfrage von 1939 ergab, dass Sinfoniekonzerte von acht Prozent der Befragten gehört wurden. Schlechter schnitten nur noch Kammermusik ab und die "Dichterstunden".

FRITZ TRÜMPI: Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2011. 357 Seiten, 39 Euro.

© SZ vom 13.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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