Phänomen Lady Gaga:"Isch lieben aus tubiklär!"

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Lady Gaga ist ein Gesamtkunstwerk, alles an ihrer Performance erscheint überlegt und clever. Selbst in unverständlichen Sätzen suchen Popkritiker nach einem tieferen Sinn. Warum nur klingt ihre Musik so uninspiriert?

Jens-Christian Rabe

Es gab eine Zeit, in der alle, die einen Sinn für den symptomatischen Irrwitz und die heilsame Macht des Pop hatten, sehr melancholisch waren. Einen Superstar wie Madonna, hieß es damals, werde es wohl nie wieder geben, einen Star, der zugleich subversiv und weltberühmt sei, der an den Grenzen dessen ruckeln könne, was so oft grundlos für gut und richtig gehalten werde und dennoch - oder eben gerade deswegen - von allen, also ALLEN, umarmt werde.

"Ich glaube, dass es in der Kunst eine Menge Wahrheit gibt - aber eben auch eine Lüge. Ein Künstler versucht mit seinem Werk nichts anderes, als diese eine Lüge Wahrheit werden zu lassen": Stefani Joanne Angelina Germanotta alias Lady Gaga. (Foto: REUTERS)

Im Angesicht des am Freitag erschienenen, zweiten Albums "Born This Way" (Universal) der 25-jährigen amerikanischen Sängerin, Songwriterin und Performancekünstlerin Stefani Joanne Angelina Germanotta alias Lady Gaga scheint es, als sei diese traurige Zeit schon sehr lange vergangen. Tatsächlich ist die Karriere Lady Gagas kaum drei Jahre alt. Ihr erstes Album "The Fame" erschien im August 2008. Die erste Single "Just Dance" vier Monate zuvor.

34 Millionen Fans bei Facebook

Die kurze Zeit reichte, um weltweit 15 Millionen Alben und 51 Millionen Singles zu verkaufen. Sie hat im vergangenen Jahr 139 Shows vor rund 2,5 Millionen Fans absolviert. Ihre Videos gehören mit insgesamt über 1,5 Milliarden Aufrufen auf YouTube zu den meistgesehenen Clips seit es die Videoplattform gibt, bei Twitter folgen ihren Kurznachrichten mittlerweile knapp zehn Millionen Menschen, bei Facebook hatte sie am Freitag Mittag exakt 34.315.090 Fans.

Sie hat der Queen in einem roten Latexkostüm die Hand geschüttelt, trat im Museum Of Contemporary Art in Los Angeles auf, arbeitet mit angesehenen Avantgarde-Modedesignern zusammen, ist Gegenstand kulturwissenschaftlicher Uni-Seminare und verdrängte in der Rangliste der hundert wichtigsten und bestverdienenden Vertreter der Showbranche des amerikanischen Wirtschaftsmagazins Forbes soeben Oprah Winfrey, die beliebteste Fernsehmoderatorin Amerikas, vom ersten Platz.

Sollte je ein Zweifel daran bestanden haben, was genau eigentlich ein "Superstar" ist - hiermit dürfte er ausgeräumt sein. Weit und breit ist niemand zu sehen, der ihr Konkurrenz machen könnte. Oder überhaupt wollte. Warum auch? Der Aufwand und die Konsequenz dieses Projekts scheinen so furchterregend wie übermenschlich.

Sehr gut gemachter Kirmestechno

Dies könnten die Stichworte sein, um etwas ausführlicher über ihre Musik zu sprechen, aber der wird auf dem neuen Album eigentlich nichts hinzugefügt. Der Sound Lady Gagas, den sie selbst Avantgarde-Techno-Rock nennt, lässt sich weiter präzise mit einem Wort beschreiben: Kirmestechno. Sehr gut gemachter Kirmestechno zwar, mit einem strengen Ohr für effektive, wiedererkennbare Melodien, aber letztlich eben genau das, was einen von links oben druckbestrahlt, wenn man etwas zu nah an einem Autoscooter vorbeigeht.

Wir reden also vorerst nicht über Musik. Oder wenigstens nicht direkt. Denn genau die Abwesenheit eines musikalischen Werks, dessen Anspruch und Cleverness der Bilderwelt, die es begleitet, auch nur halbwegs entspricht, ist für nicht wenige ein echtes Problem.

Der Schriftsteller, Pophistoriker und erklärte Feminist Thomas Meinecke, dessen gesamtes Werk eine große Sympathie für Rollenspiele jeder Art bezeugt, steht ratlos staunend vor Lady Gaga: "Sie ist wie mein Lieblingsitaliener - gute Lage, angenehme Beleuchtung, nettes Personal. Nur das Essen schmeckt leider nicht besonders." Und selbst die in Sachen Gender-Bending, Kostümtaktik und informiertem kühlen Exhibitionismus vorbildhaft sachverständige Electroclash-Königin Peaches kann, bei aller Sympathie, nicht verstehen, warum "sie so eine Scheißmusik" macht.

Tatsächlich ist diese Irritation verblüffend. Zumal über den Ruhm und vor allem die Gründe des Ruhms Lady Gagas niemand so klug reden und reflektieren kann wie Lady Gaga selbst. Sie sagt: "Wer mich Stefani nennt, hat nichts verstanden." Oder: "Ich glaube, dass es in der Kunst eine Menge Wahrheit gibt - aber eben auch eine Lüge. Ein Künstler versucht mit seinem Werk nichts anderes, als diese eine Lüge Wahrheit werden zu lassen. Dazu versteckt er sie zwischen den anderen Wahrheiten. Die winzige kleine Lüge jedoch ist das, wofür ich lebe. Mein Moment. Der Moment, in dem sich das Publikum verliebt."

Oder aber auch: "Wenn ich mich jemals auf der Bühne verletzte und meine Fans vor dem Krankenhaus nach mir riefen, käme ich als Gaga vor die Tür. Ich käme nie in Turnhosen. (...) Die Leute sollen mich niemals als menschliches Wesen sehen. Ich trinke auf der Bühne noch nicht mal Wasser, weil ich möchte, dass sich das Publikum auf meine Kunst konzentrieren und sich entführen lassen soll. Diese Illusion misslingt, wenn man auf dem Boden bleibt. Der Künstler muss im Himmel sein."

Das Vertrackte ist also, dass hier zwar jemand offenbar haargenau weiß, was er tut, dass nur geschieht, was sich Lady Gaga selbst oder der von ihr handverlesene Think-Tank "Haus of Gaga" ausgedacht hat. Aber dass all das, was so eindrucksvoll avantgardistisch, überlegt und richtig erscheint, trotzdem so stumpf, uninspiriert und falsch klingen kann.

Es gibt deshalb ungefähr genauso viele Versuche, diesen Widerspruch aufzulösen, wie es längere Artikel über Lady Gaga gibt. Viele laufen auf das beliebte materialistische Argument heraus, dass die Sache am Ende ein Produkt sei, das unter die Leute müsse. Es gehe schließlich ums Geschäft.

Die Suche nach dem höheren Sinn

Andere suchen ungläubig und pflichtschuldig immer weiter nach dem höheren Sinn. Man könne ja die entscheidende Botschaft überhört haben in so schönen Sätzen wie: "Isch lieben aus tubiklär!", wie sie sich in dem neuen Song "Scheiße" finden, auf dem die Gaga versucht, Deutsch zu sprechen. So als hinke man ihr, wie die Zeit in ihrer aktuellen Ausgabe befürchtet, stets hinterher "auf der Suche nach einem verborgenen Schatz, der sich zumindest - nur darauf kann man sich bei ihr verlassen - in der Nähe von Warhol, Madonna oder den Illuminaten befindet".

Überhaupt Warhol! Da brennt natürlich die Luft. Auch die amerikanische Zeitschrift Wired ließ sich diese Fährte nicht entgehen und vermutete, dass es bei Lady Gaga eben einfach genauso sei wie bei Andy: "Die Ideen hinter dem Klatsch sind völlig egal. Der Klatsch selbst hat die Macht von Ideen." Aber so ist es gerade nicht. Und es ist auch nicht so, dass die Sängerin etwa mit ihrem Einsatz für homosexuelle Soldaten beweisen will, dass sie mehr zu sagen hat als "ooh la la" und "hello, hello baby", wie gerne behauptet wird.

Lady Gaga wird vielmehr sowohl unter-, als auch überschätzt. Überschätzt wird sie als postmodern abgefeimte Ruhm- und Spielsüchtige, unterschätzt als ernsthafte, fast altmodisch engagierte Aktivistin für die Rechte und Anerkennung von Minderheiten. Aber genau dafür erzeugt dieses Pop-Gesamtkunstwerk auf denkbar zeitgemäße Art maximale Aufmerksamkeit. Das neue Album, besonders der aktuelle Hit "Born This Way", fügt sich diesem Zweck perfekt. Die Botschaft ist übrigens dieselbe wie in Montaignes Essay "Von einer Missgeburt": "Alles, es mag auch seyn was es will, ist natürlich." Die Studentin Stefani Germanotta hat einst einen kleinen Aufsatz über den Text geschrieben.

© SZ vom 21.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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