Süddeutsche Zeitung

Kirill Petrenko:Explosive Klangballungen in der Berliner Philharmonie

Kirill Petrenko verströmt bei seinem ersten Konzert als Chefdirigent allgemeines Glück. Sein Programm ist ein klares Bekenntnis zur Moderne wie zur Oper.

Konzertkritik von Wolfgang Schreiber

Das ganz große Rad, angetrieben von kultureller Euphorie, drehen die Berliner Philharmoniker an diesem Wochenende in der Hauptstadt. Gespielt wird Beethovens Neunte Symphonie, gleich zwei Mal hintereinander dirigiert vom neuen Chefdirigenten, dem Russen Kirill Petrenko. Sein Antrittskonzert als neuer künstlerischer Leiter beim berühmtesten Symphonieorchester Deutschlands hatte höchste Erwartungen und vorauseilende Glücksgefühle geschürt.

Mehr Aufmerksamkeit am internationalen Klassikmusikmarkt geht tatsächlich nicht, wenn eines der weltbesten Symphonieorchester die "Inthronisation" seines neuen Chefs feiert. Berlins Philharmoniker organisierten die Live-Übertragung des Konzerts am Freitag in der Philharmonie in 150 europäischen Kinos. Noch einmal dirigiert Petrenko, der Nachfolger des Briten Sir Simon Rattle, Beethovens Neunte am heutigen Samstagabend um 20 Uhr, beim Open-Air-Konzert vor dem Brandenburger Tor. Man rechnet mit 30 000 Besuchern. Die Aufführung wird vom RBB und in der Digital Concert Hall als Live Stream übertragen.

Die erste Runde am Freitag verströmte allgemeines Glück in der ausverkauften Berliner Philharmonie. Das Programm, das Petrenko dirigierte, kam einem Statement gleich: Petrenko schickte Beethovens Neunter ein Orchesterwerk des 20. Jahrhunderts voraus, die Symphonischen Stücke aus der Oper "Lulu" des Komponisten Alban Berg aus dem Jahr 1934 - ein klar ausgearbeitetes Bekenntnis zur Moderne wie zur Oper. Die Solopartie sang Marlis Petersen, die sich der Dirigent für seine erste Berliner Saison als artist in residence gewünscht hat.

Für Petrenkos fundamentale künstlerische Eigenwilligkeit sprach die Art und Weise, mit der er Beethovens Neunte entschieden in den Griff nahm, mit Hilfe seiner kritischen Erkenntnis, dass diese Symphonie all das enthalte, "was uns Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen". Also ohne jedes Interesse am klischeehaft Staatstragenden, womit gerade die Neunte Symphonie durchaus belastet ist. Er dirigierte sie mit extremen, zuweilen gefährlich raschen oder rasenden Tempi und geradezu explosiven Klangballungen im Allegro-Kopfsatz, dem Presto-Scherzo und dem weltbekannten Chorfinale auf Schillers "Ode an die Freude", für das der Rundfunkchor Berlin (Gijs Leenaars) und vier exzellente Solisten (Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns, Kwangchul Youn) die präziseste Klangschönheit entfalteten.

Dass Petrenko weder ein Spätromantiker wie Wilhelm Furtwängler noch ein Klangmagier à la Herbert von Karajan ist und sein will, zeigte er in dem weit schwingenden Adagio-Satz der Neunten Symphonie, wo er das melodische Fließen, das ätherische Schweben der Musik seinem Orchester mit fast tänzerischer Leichtigkeit abverlangte - durch Hilfe seiner rauschhaften Energie und der außerordentlich flexiblen Körpersprache des kontrolliert Emotionalen.

Mit Kirill Petrenko, 1972 im sibirischen Omsk geboren, haben die vor etwa 140 Jahren gegründeten Berliner Philharmoniker ihren erst siebten künstlerischen Leiter gekürt - nach Größen wie Furtwängler, Karajan, Abbado und Rattle. Petrenko, bis 2021 noch Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper, hat sich nach seiner Wahl an die Philharmonikerspitze beglückt gezeigt. Er habe nicht mehr atmen können, als ihn die Nachricht erreichte, versicherte er damals. Staunen muss man, dass die Berliner Musiker sich einen Chefdirigenten erwählt hatten, der eine Art "Gegenprogramm" zu dem Vorgänger vertritt, dem geborenen Kommunikator Simon Rattle. Er wolle nicht mit Journalisten und Musikkritikern über sein Metier und das Musikmachen reden, sein Fokus liege allein auf der Musik und dem Orchester, erklärte Petrenko dezidiert. Das könnte für das offensiv öffentliche Selbstbewusstsein der Philharmoniker irgendwann auch zum Problem werden.

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