Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde":"Ich habe euch ja erfunden"

Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde": Wie entsteht ein Roman? Der Dokumentarfilm "Wechselspiel" zeigt es am Beispiel von Peter Stamm.

Wie entsteht ein Roman? Der Dokumentarfilm "Wechselspiel" zeigt es am Beispiel von Peter Stamm.

(Foto: C-Films AG/Solothurner Filmtage)

Ein Dokumentarfilm zeigt, wie Peter Stamm schreibt, und zugleich erscheint ein Roman von ihm. Zwischen Autor und Werk, Wirklichkeit und Fiktion geschieht etwas Erstaunliches.

Von Christoph Schröder

Sie sitzen sich gegenüber in einem kahlen Raum, der Autor und die Filmemacherin. Neben ihr der Kameramann. Der hat noch eine letzte Frage: "Peter, welche Aspekte hätte es nicht gegeben in deinem Roman, wenn wir nicht dabei gewesen wären?" Peter Stamm, der Autor, überlegt kurz, und dabei legt sich dieses schelmische Lächeln auf seine Züge, das man von ihm kennt. "Ihr seid ja meine Figuren. Ich habe euch ja erfunden. Von daher seid ihr doch automatisch immer dabei." Befremdete Blicke. Stamm lacht in sich hinein. Schnitt und Ende des Films.

Wie findet man hinein in dieses Spiegelkabinett, das der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm um sich, seine Figuren und seinen neuen Roman herum aufgebaut hat? Die Regisseure Arne Kohlweyer und Peter Isenmann haben einen Film gedreht, einen vermeintlichen Dokumentarfilm mit dem Titel "Wechselspiel", der am 19. Januar auf den Solothurner Filmtagen Premiere feiert. Der ursprüngliche Gedanke war, Peter Stamm bei der Entstehung eines neuen Romans zu begleiten. Doch der Autor war schneller als die Planungen für die Dreharbeiten: Als die begannen, muss der Roman schon so gut wie fertig gewesen sein. Also wurde die Dokumentation zu einer semifiktionalen Romanverfilmung.

"In einer dunkelblauen Stunde", Stamms achter Roman, erscheint pünktlich zum 60. Geburtstag des Autors am 18. Januar 2023 und erzählt die Geschichte des Schriftstellers Richard Wechsler, der von einem Filmteam begleitet wird, während er an einem Roman arbeitet. In Paris, wo Wechsler lebt, wird er beim Spaziergang am Seineufer gefilmt. Man reist in sein Heimatdorf in der Schweiz, spricht mit Jugendfreunden. Doch so recht will dabei nichts herauskommen, denn Wechsler verweigert sich dem albernen Tanz um seine Person zusehends, sodass Andrea, die Filmemacherin und Ich-Erzählerin von "In einer dunkelblauen Stunde", auf Mutmaßungen und ihre Fantasie angewiesen ist.

Ist die Erfindung zugleich eine Lüge und mithin ein moralisch verwerflicher Akt?

Im Roman scheitert der Film, doch die Handlung geht weiter, weil Andrea zu Wechslers Jugendliebe eine Beziehung aufbaut, die über das Professionelle hinausgeht. In einer Phase der Gegenwartsliteratur, in dem das autofiktionale Schreiben sich auf einem Höhepunkt (und damit möglicherweise auch am Beginn einer Krise) befindet, öffnet Peter Stamm sich und sein Werk so überraschend wie überzeugend für die existenziellen Fragen des Fiktionalen: Wer hat im Prozess des Erfindens Macht über wen? Ist die Erfindung zugleich eine Lüge und mithin ein moralisch verwerflicher Akt? Wie unverrückbar und starr sind Urteile über Menschen oder Charaktere, wenn sie sich erst einmal verfestigt haben? Oder, ganz simpel gefragt: Was weiß man tatsächlich über einen Künstler, wenn man glaubt, dessen Werk durchdrungen zu haben?

Peter Stamm zündelt mit einiger Freude am Gerüst des Genres, indem er seinem Alter Ego Wechsler provokative Sätze in den Mund legt: "Dieses ganze autobiographische, autofiktionale Zeug, wozu soll das gut sein? Diese geheuchelte Authentizität, die verlogener ist, als jede Erfindung es je sein könnte. Nie lügt man so schamlos, als wenn man von sich selbst erzählt." Im Bewusstsein der Ich-Erzählerin Andrea verschwimmen die Realitätsebenen zu einem Raum potenzieller Geschichten: So könnte es gewesen sein. Oder auch nicht.

Die große Könnerschaft, die aus "In einer dunkelblauen Stunde" spricht, besteht in der Ironie und in der Selbstironie, der Bereitschaft zur Selbstentblößung und in der Leichtigkeit, mit der Peter Stamm erzählt. Schon in seinen vorangegangenen Romanen hat er mit Spiegel- und Doppelgängermotiven gearbeitet; so virtuos wie in diesem allerdings noch nicht. Der Effekt ist frappierend: Je mehr Stamm seine Schriftstellerfigur mit Zweifeln und Unklarheiten umstellt, umso deutlicher erscheint er selbst als starker und souveräner Autor. In einem subtil ausgeklügelten Roman tritt der Schriftsteller als Stimme und als Person hinter den Text zurück. Nicht der Künstler, sondern sein Werk führt das Eigenleben.

Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde": Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023. 256 Seiten, 24 Euro.

Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023. 256 Seiten, 24 Euro.

(Foto: Fischer (SZ))

Wie auch der "Wechselspiel"-Film, der von Stamms Mimik lebt, ist "In einer dunkelblauen Stunde" streckenweise ausgesprochen lustig, aber so sorgfältig austariert, dass der Ernst dahinter niemals verloren geht. Möglicherweise ist Peter Stamms neuer Roman der bestmögliche Ausgangspunkt für das beginnende Alterswerk eines ob der Lakonie seiner Sätze oftmals unterschätzten Schriftstellers.

Stamm schlägt nun einen anderen Tonfall an; seine Sätze sind schwingender, luftiger, hypotaktischer. Dass Stamm seinen Gegenstand ernst nimmt, steht außer Frage: Man schreibe, so sagt es Wechsler, mit dem ganzen Körper, der sich dabei verbrauche. Die beiden Dokumentarfilmer in "Wechselspiel" sind Schauspieler, die die Namen ihrer Figuren im Roman tragen, Andrea und Tom. Wechslers bekanntester Roman wiederum gleicht in seinem Inhalt dem von Stamms Roman "An einem Tag wie diesem". Der Vorsatz zu "In einer dunkelblauen Stunde" stammt von Fernando Pessoa, ausgerechnet jenem Schriftsteller, der für sich eine Vielzahl von Schreibidentitäten erfand, inklusive jeweils unterschiedlicher Stillagen und exakt ausgearbeiteter Biografien: "I know not, what tomorrow will bring." Angeblich Pessoas letzter, am Abend vor seinem Tod zu Papier gebrachter Satz.

Er wisse nicht, wie er nach diesem Roman weiterschreiben könne, sagt Peter Stamm am Ende von "Wechselspiel": Es gehe darum, in jedem Buch alles zu geben. Richard Wechsler bezeichnet Romane als Zumutungen, deren Bilder in die Köpfe kriechen; als Operationen am Gehirn. Im Fall von "In einer dunkelblauen Stunde" haben wir es mit einem geglückten Eingriff zu tun.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusBret Easton Ellis
:"Heute würde 'American Psycho' nicht mehr verlegt werden"

Kultautor Bret Easton Ellis über die Vorteile des Alterns, kulturelle Aneignung - und seinen neuen Roman "The Shards".

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: