Süddeutsche Zeitung

Peter Sloterdijk "Zorn und Zeit":Entdecke, Bürger, den Zorn

Achill trifft Fukuyama und wird misanthropisch: Peter Sloterdijks Stichworte zur Zeit

Jens Bisky

Auch die Sorgen sind nostalgisch geworden. Noch immer erwartet die offene Gesellschaft, ihre Feinde müssten den Extremisten des 20. Jahrhunderts im wesentlichen gleichen. Dank des islamistischen Terrors und eines kollektiven, unwillig verwalteten Elends, das von fern an die alte ,,soziale Frage'' erinnert, scheint die postkommunistische Situation im Bannkreis dessen befangen, was ihr abhanden kam: des historisch noch kaum verstandenen Kommunismus, der, wie nun Peter Sloterdijk glaubhaft macht, brutalsten und erfolgreichsten Zornbewirtschaftung der Weltgeschichte.

Der Leser dürfte von Sloterdijks geschichtsphilosophischem Langfeuilleton ,,Zorn und Zeit'' am meisten profitieren, der den ,,politisch-psychologischen Versuch'' als Aufräumarbeit im Angsthaushalt der Gegenwart zur Kenntnis nimmt. Um klarer zu sehen, muss er freilich eine Korrektur seines psychoanalytisch verdorbenen Menschenbildes vornehmen und sich auf eine lange, pointenreiche Paraphrase der doch nicht ganz unbekannten abendländischen Geistes- und Empörungsgeschichte einlassen.

Sloterdijks Einfall ist schlicht und erhellend: Die Geschichte aller bisherigen europäischen Gesellschaft ist ihm die Geschichte von Zornmanagement. Am Anfang steht Achill, dessen Zorn zu singen, Homer die Muse anruft, im ersten der vierundzwanzig Gesänge der ,,Ilias''. Dieser Zorn ist uns fremd, nahezu unbegreiflich. Homer, so Sloterdijk, bewege sich ,,in einer von einem glücklichen Bellizismus ohne Grenzen erfüllten Welt''.

Zorn und Stolz, Wut und Hass, gehören zum Menschen

Die ,,leuchtende Sichtbarkeit der Schauspiele und Schicksale'' versöhne mit der ,,Härte der Tatsachen'', ganz verstünde dies nur, wer imstande sei, Krieg und Glück sinnvoll zusammen zu denken. Die Aufwallungen des Helden gehen vom thymós aus, ,,dem Regungsherd des stolzen Selbst''. Die Sonne Homers schien über einer Welt, die Summe war der in ihr zu führenden Kämpfe. Alles Spätere ist Domestizierung, Produkt der ,,Austreibung des großen Zorns aus der Kultur'', der aber dennoch nie ganz verschwindet.

Das ,,Thymotische'', Zorn und Stolz, Wut und Hass, gehören für Sloterdijk zum Menschen. Sie sind nicht, wie uns die libidoversessene Psychoanalyse weismachen will, Reaktionsbildungen auf unbefriedigte erotische Wünsche, abgelenktes Begehren. Wenn denn, so mag man folgern, Ödipus oder Narziss unserem Triebschicksal den Namen leihen, so ist unsere Psyche doch nur ganz zu verstehen, wenn dem Achilleischen in ihr sein Recht wird.

So überzeugend das klingt, so sehr beruht es doch auf einer arg raschen, arg engagierten Lektüre der ,,Ilias''. ,,Menis'' - der Zorn, von dem gesungen werden soll - bedeutet eben auch ,,Groll''. Achill lernen wir kennen ,,grollenden Sinns um den Raub der schöngegürteten Jungfrau'', unzugänglich für Rat und Bitte, ausscheidend aus der Gemeinschaft der kämpfenden Achaier.

Er ist ein adelsstolzer Held: ,,Wirklich'', unterbricht er Agamemnon, ,,ein Feigling und Wicht verdient' ich geheißen zu werden, / Gäbe ich fügsam in allem dir nach, soviel du gebietest!'' Und er ist lange, blutige Zeit ein Nicht-Handelnder, ein Schmollender, den erst der Tod des Gefährten ins zornige Rasen zurückruft.

Wie er zuerst im Schmollen Maß und Grenze überschritt, so nun im Kampf: Die Götter selbst erschrecken, werden von Mitleid erfasst, ,,so oft sie's gewahrten'', wie Achill die Leiche Hektors um den Grabhügel des Patroklos schleift. Apoll klagt darüber. Priamos, der leidgebeugte Vater des Erschlagenen, appelliert an Achill: ,,Denk' an den eigenen Vater, du göttergleicher Pelide.'' Der Feind gilt als Gleichberechtigter. Gegen die Gesetze der Adelswelt, die den Hörern der Epen als schon vergangene geschildert wird, hat Achill im Übermaß seiner Aufwallung verstoßen. Sein Erbarmen mit Priamos stellt die Ordnung wieder her.

Zornmanagement und Gewaltromantik

Es geht nicht um Spitzfindigkeiten. Der Zorn erscheint in der ,,Ilias'' vielgestaltiger, problembewusster gesehen als im Loblied auf die Welt Achills. Das Herrliche ist, wie stets, auch hier Schatten des Schreckens. Dass Sloterdijk den Wandlungen des Ehrbegriffs, der Würdevorstellungen nicht nachgeht, dass er abstrakt zwischen Zorn, Wut, Hass und Ressentiment unterscheidet, im Gang durch die Zeiten aber auf Unterscheidungen verzichtet, verleiht seinem Versuch etwas Feuilletonistisches. Vieles bleibt Meinung, Aperçu, Bonmot.

Man will Sloterdijk gern darin zuzustimmen, dass ,,Freiheit ein Begriff ist, der nur im Rahmen einer thymotischen Menschensicht Sinn ergibt'', aber der Zusammenhang von Zorn und Stolz wäre doch genauerer Betrachtung wert. Solange nicht geklärt ist, wie die Kaffeeausteilerin am Kiosk achillesgleichen Stolz nähren soll, bleibt aller Appell bloßes Wünschen mit peinlicher Nähe zu Fromms Psychokitsch in ,,Haben oder Sein''. Sloterdijk ist in seiner Verachtung des Konsumismus nicht frei davon.

Er betrachtet den Zorn energetisch, temporal und pragmatisch. Dem sich entladenden Zorn wohne die Überzeugung inne, dass es in der Welt zu wenig Leiden gebe. Manche haben Leiden verdient, aber nicht erhalten. Das will der ,,Zornträger'' ändern, ,,die Welt mit Gräueln ... verschönern'' (Schiller), was nicht immer unverzüglich möglich ist. ,,Wer sich seinen Zorn merken will, muss ihn in Hasskonserven aufbewahren.''

Das Zornmanagement erfolgt, grob gesagt, auf zweierlei Art: Die der Rache verpflichtete Projektform, bekannt unter Namen wie Selbstjustiz, Anarchismus, Gewaltromantik, kann zur ,,Bankform'' ausgebaut werden. Dann geht es um Revolution. In einer Zornbank kann man Depots anlegen für ,,moralische Explosiva und rächerische Projekte''. Man tut es in der Erwartung einer kommenden Umkehr aller Verhältnisse.

Zu den Voraussetzungen für die ,,Weltbank des Zorns'', Lenins Komintern, gehört die ,,metaphysische Rachebank'', die Vorstellungen vom zornigen Gott, vom Jüngsten Gericht und ewigen Höllenstrafen. Mit der Erfindung des Purgatoriums, in dem die nicht vollends verdammten Sünder bis zur Erlösungsreife brutzeln, ist viel für die Verzeitlichung des Zornmangements gewonnen.

Fidel Castro liest am liebsten ,,Der Graf von Monte Christo''

Zwar trägt die Rede von der ,,Weltbank des Zorns'' wenig zum historischen Verständnis des Kommunismus von Lenin bis Mao bei, aber sie hilft, zeitgenössische Fronten zu klären. Mit deutlicher Sympathie für Thesen Ernst Noltes betont Sloterdijk die Vorgängerfunktion des Linksfaschismus gegenüber den faschistischen ,,Nationalbanken'' des Zorns. In beiden Fällen geht es um die Aufhebung des Tötungsverbots, um Umverteilung, Homogenisierung und den ,,Rausch der Missgunst''.

Dass diese Motive, nebst Omnipotenzphantasien, der bürgerlichen Welt nicht fremd sind, zeigt Sloterdijks hoch amüsanter Kommentar des herrlichen Racheromans ,,Der Graf von Monte Christo'', übrigens das Lieblingsbuch Fidel Castros. Mag dieser auch noch ausharren, die westliche Welt trat, ohne es zu bemerken, bereits 1979 in den Postkommunismus ein: Ruhollah Khomenei kehrte aus dem französischen Exil nach Teheran zurück, Margaret Thatcher wurde Premierministerin, und zu Weihnachten marschierte die Sowjetarmee in Afghanistan ein.

Hier begann das ,,Ende der Geschichte''. Fukuyama hat Recht behalten. In der Gegenwart ward die ,,Mitte'', ,,das formloseste der Monstren'', ,,Hauptdarstellerin'' und ,,Alleinunterhalterin''. Dass viel geschieht, ist kein Argument für eine Wiederkehr der Geschichte, denn diese gibt es, so Sloterdijk in gut hegelianischer Wendung, nur in der Form der Tragödie oder des Epos. Die vielen Geschichten, und sei es die, wie mit ,,hämischer Mittellosigkeit'' das World Trade Center zerstört wurde, ergeben keine Geschichte als Weltgericht.

Der kämpferische Islam habe Millionen junger Männer mit Hormonstau auf seiner Seite, tauge aber nicht zu einer neuen ,,Weltbank des Zorns'', dazu ist er zu geistlos, pures Ressentiment, auch im Terror bestenfalls ein Rasen der Verlierer. In den Pariser Banlieue-Unruhen des vergangenen Jahres entdeckt Sloterdijk allgemeine Misanthropie, ,,Unlust am Vorhandenen''.

Das ist unangenehm, die ungelösten Probleme aber liegen in der liberalen Welt selber: Sie kennt gegenwärtig keinen Weg, Zorn in Stolz umzuwandeln, Stolz produktiv zu machen. Sloterdijk berichtet, wie der Albanien und andere osteuropäische Staaten ,,erotisiert'', sprich vom Sprachspiel des Kommunismus auf das Geldspiel umgestellt wurden. Geschäftsleute organisierten Kettenspiele nach dem Schneeballsystem.

Sie sprachen das Phantasma vom Kapital an, das sich magisch selbst vermehrt. Wer über die Geprellten spottet, vergisst, dass Kapitalismus derzeit diese ,,Gierdynamik'' voraussetzt. Wer verliert, soll sich aber nicht beklagen, sondern den autoritären Tendenzen zustimmen, die rasant an Macht gewinnen, unterstützt von Scherheitswahn, von der Angst vor Wohlstandsverlusten und einer ,,neoliberalen'' Rhetorik der Härte.

Der Kommunismus hatte die nicht beabsichtigte Nebenfolge, seine Erzfeinde, die Sozialdemokraten, im Westen zu stärken. Damit ist es vorbei. In der postkommunistischen Situation der ,,Zornzerstreuung'' hofft Sloterdijk auf Zeit für Zivilisierungen. Wer zur Hoffnung unbegabt ist, hat gute Gründe, den Untergang des Liberalismus zu erwarten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.878953
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ-Beilage vom 04.10.2006
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.