Peter Sloterdijk wird 70:Unfrisierbarer Unhold

Peter Sloterdijk

Wenn er politisch wird, dann wird ihm die Ideengeschichte, die große und die eigene, zu einem Arsenal watteförmiger Waffen: Peter Sloterdijk.

(Foto: Henning Kaiser/dpa)

Der Philosoph, Kulturtopograph und Pointenkünstler Peter Sloterdijk stößt immer wieder nationale Debatten an. Nun wird er 70 Jahre alt.

Von Johan Schloemann

Zu seinem heutigen 70. Geburtstag hat sich Peter Sloterdijk mit einer typischen Parallelaktion beschenken lassen. In Karlsruhe, wo er geboren wurde, wo er nach einem Studium in München und Hamburg, nach Umwegen über die Bhagwan-Kommune in Indien und Gastprofessuren in aller Welt an der Hochschule für Gestaltung lehrte, wo er Bewunderer angezogen, wo er Tafelrunden mit Bazon Brock, Peter Weibel, Bruno Latour und vielen anderen abgehalten hat - in Karlsruhe ließ Sloterdijk sich am Wochenende mit einem großen akademischen Symposion feiern.

Es ging um alles Mögliche in seinem voluminösen Werk, vom Humor bis zur anti-provinziellen Heidegger-Rezeption. Außerdem gibt es bei Suhrkamp ein neues Buch, "Nach Gott", mit gesammelten Texten zur Religion. Und zur selben Zeit erschien im Spiegel das jüngste große Interview.

Er bedarf der Energiezufuhr durch hübsche kleine nationale Debattenaufregungen

Das ist Peter Sloterdijk, wohl der einzige Denker von Bedeutung, der in Deutschland das Rollenfach des französischen Intellektuellen ausfüllt: Einerseits reizt er gerne die zu beherzten Kritiker, die wenig von ihm gelesen haben. Andererseits bedürfen seine Auftritte als global bedeutsamer Philosoph, als Kulturtopograph von der Steinzeit bis zur Globalisierung, auch der Energiezufuhr durch ein paar hübsche nationale Debattenaufregungen.

Erledigen wir Letzteres zuerst: Nein, er hat in dem Interview nicht gesagt, dass Einwanderer Bazillen seien. Er versucht an der betreffenden Stelle, wenn auch mit unglücklichen biologischen Bildern, die "Populisten und Neonationalisten" als defensive Kräfte zu analysieren, während der klassische Nationalismus expansiv gedacht habe.

Sloterdijk verteidigt seine Sorge um einen überforderten Sozialstaat und die Demokratie, die keine unkontrollierte Immigration vertrügen, als linkskonservativ.

Dies hängt mit der Idee einer "Allgemeinen Immunologie" zusammen, von der Sloterdijk sich trotz der unguten Traditionen solcher Bildsprache eine "affirmative Zivilisationstheorie" erhofft.

Das schrieb er 2009 in "Du musst dein Leben ändern", seiner Erzählung der Geistesgeschichte als Trainingslager. Dort verwahrte er sich gegen "Luxuspessimismen", aber auch "Fundamentalismen". Und so sieht er sich letztlich doch als Anwalt von Emanzipation und Aufklärung, auch in dem Interview.

Das Problem ist: Wenn Sloterdijk politisch wird, dann wird ihm die Ideengeschichte, die große und die eigene, zu einem Arsenal watteförmiger Waffen. Mit diesen veranstaltet er ein luftiges Kampfspiel, und wenn die Öffentlichkeit dann mit scharfen Schwertern pariert, sieht das immer ein bisschen lächerlich aus. Auf beiden Seiten.

Blitze von zeitgenössischer Pointenkunst

So war es mit seinen Vorschlägen zur Steuerreform, die Christian Lindner von der FDP erfreuen, während Slavoj Žižek sie in dialektischer Weise als kommunistisch ansieht; so war es mit seinen Fragen nach der Zukunft der Eugenik; und eben mit seiner Übersetzung des Wutbürgers in den "thymotischen Citoyen", die ein Schüler Sloterdijks so wörtlich nahm, dass sie als Wunsch missverstanden wurde, geistiger Vater der AfD zu werden.

Worum geht es ihm dann in seinen "eigentlichen" Schriften? Tja, ein nüchterner Handbucheintrag in ein paar Zeilen wäre schwierig. Wir versuchen es trotzdem: Sloterdijk arbeitet an einer historisch informierten und formierten Sozialpsychologie, in der Erkenntnisse insbesondere aus der Biologie, der Ökonomie und Theologie zu einer neuen Analyse der Gegenwartskultur zusammenfließen.

Das klingt natürlich viel zu langweilig, weil nicht bloß die konkreten Inhalte fehlen, sondern das Feuer und die Farbe bei Sloterdijk. Die Effekte seines Schreibens entstehen, indem er Metaphern aus den genannten Bereichen in einen wechselseitigen Schüttelverkehr bringt: vom "sonosphärischen Treibhaus" im Mutterleib bis zur "Zornbank".

Dann ist da die irrsinnige Neu- und Lesegier ohne jede Fachgrenze, von altkirchlichen Asketen bis zur Unternehmensberatung. Und schließlich verdankt sich die Wirkung einer eigenen Mischung: Auf den strengen Theorie-Ton der postmarxistischen Siebzigerjahre treffen Blitze von zeitgenössischer Pointenkunst.

Auf die Weise deutete das Meisterstück "Kritik der zynischen Vernunft" (1983) mindestens die Unvollendetheit der Aufklärung, die "Sphären"-Trilogie (1998 - 2004) das Dasein als eine Geschichte von Hülle und Inhalt, das Buch "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" (2014) den Innovationshunger als Vatermord.

Er nimmt das Virtuose und Artistische gar nicht als Vorwurf

Vieles ist als Philosophie getarnte Ideengeschichte. Das ist zwar eine Unterscheidung, die Sloterdijk zu Recht als spießig abtut, aber es führte immer wieder dazu, dass seine Lang-Essays als große systematische Werke missverstanden wurden. Dabei nimmt er das Virtuose und Artistische gar nicht als Vorwurf - siehe seine jüngsten Ausflüge in die Oper und in den erotikhistorischen Roman.

All das ist aber nur mit einer Selbstdistanz durchzuhalten, für die "der unfrisierbare Oger" (Sloterdijk über Sloterdijk) ebenso Dank verdient wie für die Folgen seiner Formulierungssucht, von der er noch lange nicht geheilt werden möge.

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