Es ist die biblische Geschichte, die am meisten zu denken gibt und die selbst in Zeiten schwindender Bindung an die Vergangenheit immer noch alle kennen: wie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. "Stopp!", würde hier sofort Peter Schäfer rufen, Professor für Judaistik, bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums Berlin und Autor des Buchs "Die Schlange war klug". Kann man das denn wirklich eine Vertreibung nennen? Lest den Text des Schöpfungsberichts, die ersten drei Kapitel des Buches Genesis, doch einmal genau! Dann werdet ihr feststellen, dass jene Deutungsrichtung der Geschichte vom "Sündenfall", wie er meistens heißt, keineswegs die einzig mögliche ist.
Davon, dass die Schlange identisch mit den bösen, den teuflischen Kräften wäre, ist nirgends die Rede. Es heißt einfach, sie sei das klügste unter den soeben erschaffenen Tieren gewesen. (Übrigens klingt das hebräische Wort für "klug" fast genauso wie das für "nackt", auch daraus zieht Schäfer überraschende Schlüsse.) Und obwohl Adam und Eva im Übertretungsfall, dass sie die verbotene Frucht äßen, der sofortige Tod angedroht war, wird dieser keineswegs vollstreckt.
Und sorgt Gott am Ende nicht gar noch rührend für die beiden mutmaßlichen Delinquenten?
Wie also, wenn der Auszug aus dem Paradies kein Fluch, sondern im Gegenteil ein Akt der Emanzipation gewesen wäre? Und sorgt Gott am Ende nicht gar noch rührend für die beiden mutmaßlichen Delinquenten, indem er ihnen eigenhändig solide Röckchen aus Fell näht statt der improvisierten Schurze aus Feigenblättern, die da draußen bestimmt nicht lang gehalten hätten? Wenn Adam und Eva das Paradies nicht verlassen hätten, es gäbe die ganze geschichtliche Welt nicht, der Mensch in holder Unschuld stünde kaum höher als die Tiere, denen er den Namen geben durfte, ja es wären immer noch bloß die beiden, Adam und Eva, denn auch die menschliche Fortpflanzung kam erst zusammen mit dem Tod und der Arbeit in die Welt.
Als Kronzeuge seiner Interpretation dient Schäfer die Tradition der jüdischen Rabbinen in der Spätantike, nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. und vor der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert, die in Palästina die Torah auslegten. Ihre Schriften - die Midraschim, der Talmud und andere - sind für das Judentum bis heute von zentraler Bedeutung. Für sie ist es unentbehrlich, dass die historische Welt eintritt, denn sonst könnte es auch keine Torah geben, die bekanntlich von der Geschichte des Volkes Israel in seiner Partnerschaft mit Gott berichtet.
Die Torah, höchstes Gut und von Gott noch vor aller anderen Schöpfung konzipiert, wäre im Fall eines fortgesetzten Paradiesaufenthalts von Adam und Eva einfach unterblieben - folglich kann dessen Ende kein Übel gewesen sein. Die Welt im Vollzug, wie wir sie kennen, als eine Abfolge von Taten freier Menschen, von Taten, die mithin auch schlecht oder falsch sein können: hätte es ohne Apfel und Schlange nicht gegeben. Und ist es denn nicht auch so, dass die Engel, die alternativlos gut sind und also keine Freiheit kennen, die Menschen um die Torah geradezu beneiden? Engel brauchen keine Torah, kriegen aber auch keine.
Hier liegt der Kern von Schäfers Buch. Hier kennt er sich wirklich aus, hier geht er stark ins Detail. So sehr die Christen den Juden, wie Nietzsche es ausdrückt, ihre Bibel förmlich unter dem Leib weggezogen haben: den Talmud und die anderen Schriften der rabbinischen Tradition ignorierten, verleumdeten und verbrannten sie. Bis heute von zentraler Bedeutung für das Judentum, haben sie darüber hinaus kaum in die Breite gewirkt. Durch Schäfer lernt man sie kennen.
Über die rabbinische Auslegung erfährt man Dinge, die man garantiert noch nicht wusste
Schäfer hat in dieser Zeitung vor Kurzem einen Artikel über die neue Fassung der Oberammergauer Passionsspiele geschrieben. Kritisch hielt er fest, dass beim Versuch, dieser Veranstaltung ihren alteingefleischten Antisemitismus auszutreiben, eine ebenso vereinnahmende wie fade Harmonisierung herausgekommen sei, die die scharfe Differenz zwischen Judentum und Christentum übertüncht. Ganz frei von dieser Tendenz ist auch das Konzept seines Buchs nicht, wenn es in seinem Untertitel von einem "westlichen Denken" spricht, das so nicht existiert.
Im Zentrum des Buches steht die rabbinische Überlieferung, während der christliche Mainstream mit seiner Lehre von der "felix culpa" eher an den Rand gedrängt wird. Diese "glückliche Schuld", die sich die Menschheit durch Adam und Eva aufgeladen hat, war unentbehrliche Voraussetzung für die Erlösungstat Christi, denn wen bitte hätte er erlösen sollen, wenn nicht Verstrickte? Diese christliche Hauptlinie, das sei zu Schäfers Rechtfertigung gesagt, kann man allerdings auch an anderen Orten nachlesen, während der Leser bei ihm Dinge über die rabbinische Auslegung erfährt, die er garantiert noch nicht wusste.
Manches davon ist etwas arg spitzfindig, doch anderes entfaltet auch einen eigenwilligen Charme, etwa dass sich der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, das Aleph, bei Gott darüber beschwerte, dass er nicht auch die Torah eröffnen durfte, welche vielmehr mit dem zweiten Buchstaben, dem Beth, anfängt, Beth wie "Bereschit", "am Anfang (schuf Gott ...)". Gott, um Antwort nie verlegen, vertröstet das arme Aleph: Es müsse nur noch 26 Generationen warten, bis zu den Zehn Geboten, dort bekäme es endlich die erste Stelle. An solchen Stellen ahnt man, was wahre Buchstabenfrömmigkeit heißt.
Ob auch Aristoteles, Lukrez und Epikur in einem Buch, das als sein Thema ausdrücklich die Schöpfungsmythen benennt, von Rechts wegen ein Platz zukommt, darüber mag man streiten: Aristoteles besteht auf der schöpfungslosen Ewigkeit der Welt, Epikur und Lukrez verabschieden Mythen überhaupt aufs Grundsätzlichste. Dankbar ist der Leser dennoch für die wunderbar klaren Zusammenfassungen dieser Lehren und dazu von Platons Weltschöpfungsdichtung Timaios, die auf eigene Faust zu durchqueren man niemandem empfehlen möchte. Mit Erleichterung hört man vom Autor, dass gerade das Unverständliche daran auf gewissen gedanklichen Unschärfen Platons selbst beruht. Etwas stiefmütterlich knapp fällt der "Epilog" aus, der die Nachwirkung der alten Schöpfungs- und Paradiesgeschichten bei Kant, Schiller, Fichte und, als isoliertem Nachzügler, bei Carl Schmitt ins Auge fasst.
Man sollte es dem Buch aber nicht zum Vorwurf machen, dass es in dieser Weise auseinanderfällt. Dass ein Versuch, jüdisches und philosophisches Denken zu einer Synthese zu zwingen, scheitern muss, führt Schäfer exemplarisch am Beispiel des alexandrinischen Juden und hellenistischen Autors Philon vor. Letztlich entspricht also die Form dieses Buchs dem Problem, mit dem es sich befasst: dass es sich bei einer Überlieferung, die man als ein homogenes Gelände anzusehen gewohnt war, in Wahrheit um tief zerklüftetes Terrain handelt.