Zum Nachlesen:Peter Handkes Reisebericht "Gerechtigkeit für Serbien": Teil II

Save-Mündung in Belgrad, 1980er

Save-Mündung in Belgrad, 1980er In der serbischen Haupstadt Belgrad mündet der Fluss Save in die Donau. Foto undatiert.

(Foto: SZ Photo)

Auslöser der Diskussion über den Literaturnobelpreisträger war der Text "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien", der 1996 in der SZ erschienen ist. Hier das Original.

Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina

Von Peter Handke

Zur Drina: der Reise zweiter Teil

Danach begann der letzte Teil unserer Reise, und diese wurde zeitweise, nein, durchwegs abenteuerlich. Wir brachen bei immer noch novemberlichem, mit Blättern vermischtem Schneefall, von Belgrad, dieses und das Hotel 'Moskwa' endgültig hinter uns lassend, auf zur Grenze nach Bosnien. S. war am Morgen zurück nach Frankreich gefahren, weil die Kinder nach den Allerheiligen-Ferien dort wieder in die Schule sollten, und nun suchten wir, Zlatko, Zarko und ich, im Auto des ersteren den Weg nach Bajina Basta an der Drina, wo des zweiteren frühere Frau mit beider Tochter lebte. Suchten - denn obwohl der Vater die Strecke im Lauf der achtzehn Lebensjahre seines Kindes immer wieder gefahren war, kam ihm jetzt keine der Straßen bekannt vor, denn er hatte immer den Autobus genommen (und Spezialkarten von Serbien waren im Moment nicht aufzutreiben).

Zuvor aber, vor dem Verlassen der Hauptstadt, wurde es Zeit zum ersten Tanken in diesem, laut Volksmund, 'Land mit den meisten Tankstellen auf der Welt' - in Gestalt der Kanister- und Flaschenanbieter dichtauf am Rand der Ausfallstraßen. Und auch bei all den Treibstoffkäufen danach hat sich mein erster Eindruck dort erhalten, daß die grünrotgrüne dicke Flüssigkeit, wie sie da in einem langsamen und gut sichtbaren breiten Strahl von überaus behutsamen Händen jeweils in den Tank gegossen wurde, sich wie noch nie als das sehen ließ, was sie in der Tat ja auch war: etwas ziemlich Seltenes, eine Kostbarkeit, ein Bodenschatz - und wieder hatte ich gar nichts einzuwenden gegen meine Wunschvorstellung, solch eine Art Tanken möge lang noch so weitergehandhabt werden, und vielleicht sogar übergehen auf anderer Herren Länder. (Danach wurden wir freilich, als sei da etwas gerochen worden, von einer Polizeistreife überprüft, und weil 'Zlatko Bo.' - laut serbischem Führerschein - das Auto eines anderen, 'Adrian Br.' - laut österreichischem Zulassungsschein - fuhr, war eine nicht allzu große Strafe zu bezahlen; hätte sich herausgestellt, daß die beiden Namen für ein und dieselbe Person galten, wäre das Ganze wohl weniger glimpflich ausgegangen.)

Unsere Reise an die Drina führte etwa südwestwärts, durch eine weitgestreckte Felderebene, lange ganz ohne Hügeligkeit, laut Zarko, dessen Heimrichtung das nun war (und nicht mehr wie in den ersten Tagen Zlatkos, des Ostserben), 'endlich das typische Serbien'. Es schneite auf dem freien Land dort bald dichter, und etwa nach dem dritten Verirren - die paar sonntagnachmittäglichen Menschen an den Landstraßen erwiesen sich, um Auskunft gefragt, wie es sich gehört, als sprachlos betrunken - dämmerte es schon wieder, in einem ungewissen namenlosen Zwischenbezirk lang vor dem laut unserem sonst immer stummeren Wegweiser 'großen wilden Gebirge', das wir zu überwinden hätten vor unserem Ziel. Ohnedies gefaßt, nicht mehr dort anzukommen, kehrten wir ein in ein einsames Landstraßenlokal, wo an der Stelle des einstigen Titobilds das eines serbischen Heldengenerals aus dem Ersten Weltkrieg hing; auf dem Tisch eine gestrige Zeitung, die Vecerni Novosti, deren Titelseite eine Woche später riesig das WortMIR, FRIEDE einnehmen sollte (worauf ichdachte, in welcher deutschen Zeitung das 1945 so monumental gestanden haben könnte?).

Wie es in Verirrgeschichten regelmäßig heißt: 'Irgendwie' erreichten wir die Stadt Valjevo, den Ausgangspunkt der Straße übers Gebirge. Dieses hatte den Namen 'Debelo Brdo', der Dicke Berg, und die Paßhöhe für Bajina Basta - was mir unser Führer im zunehmenden, längst nächtlichen Schneetreiben als 'Garten des Baja' (= Serbenheld gegen die Türken) übersetzte - sollte hoch über tausend Metern liegen. Die Straße bergauf wurde zusehends weiß, ein Verrutschen der Räder beim geringsten Bremsversuch, und die Lüfte ebenso zusehends schwarz, sehr bald keine Lichter mehr, weder von einem Haus noch von einem anderen Auto, und tags darauf war zu erfahren, daß der Abendbus von Belgrad in Valjevo untergeschlupft war und die Passagiere dort in der Bergfußstadt übernachtet hatten.

Als eine lange Zwischenstrecke unasphaltiert war, mit kratergroßen Schlaglöchern dichtauf, zwischen denen unser Fahrer wie auf einer Rallye durchkurvte, waren wir zugleich doch guter Dinge, denn auf dem nackten Erdreich war der Schnee kaum liegengeblieben. Unser Lotse bemerkte dann, auf der Wetterkarte am Morgen im Fernsehen seien ab etwa Valjevo keinerlei Schneesterne mehr eingetragen gewesen. Und jetzt schneite es nach jeder der langgezogenen Kurven mehr und mehr, und auf vielleicht halber Höhe kam auch noch der Wind dazu, bald schon ein Gebirgssturm, von welchem die Flocken rasch zu Dünen geweht wurden, hier niedrigen, weiterwandernden, hier stockenden, sich verfestigenden, in die Kreuz und Quer über die schmale Straße. Mit einer europameisterlichen Gleichmäßigkeit steuerte der Kartenspieler und Wirtshausschildermaler da hindurch und hinauf, auch wenn es im Steileren den Gang wechseln hieß; ein Zurück kam nicht mehr in Frage (war nicht auch das ein Ausdruck aus Abenteuerge schichten?).

Hin und wieder machte noch einer, indem er zugleich starr vor sich hinblickte, eine ablenkende Bemerkung, erhielt aber kaum mehr eine Antwort. Und dann sprach bei der weiteren Überquerung des Dicken Bergs von uns dreien vielleicht für eine Stunde keiner auch nur ein Sterbenswort; und auch Ceca sang nicht mehr, und nicht mehr der serbische Volkssänger Tozovac. Wenn uns in dem langsam kurvenden Scheinwerferlicht außer den Schneewächten, Hürde um Hürde, überhaupt etwas entgegenleuchtete, so waren es die Felswände, die zunehmend entblößten. Und mein Gedankenspiel war: gesetzt, das Auto bliebe nun und nun stecken - in welche Richtung sollte ich mich auf den Weg machen? Und wie weit käme ich wohl, so ohne Mütze und rechtes Schuhzeug? Spannend! Und fast schade, daß es zwischen den Flockengeschwadern nicht endlich losblitzte, so ein Blizzard hätte die Schneesturmnacht hoch im Balkangebirge vollständig gemacht, auch die Beunruhigung in etwas anderes verwandelt, in Panik? Oder vielleicht gerade in deren Gegenteil?

'Irgendwie', fast in Schrittfahrt, fanden wir über den Paß und dann hinunter in Schichten, wo es ruhiger schneite, nach alledem wie in einem Gefilde, und der Schnee sogar stellenweise die Fahrbahn frei ließ - worauf unser Führer in den finsteren Talgrund irgendwo zeigte und aufgeregt den ersten Satz seit sozusagen Menschengedenken sprach: 'Dort unten ist die Drina, dort unten muß Bajina Basta sein, und dort hinten gleich Bosnien.'

Seltsames Klingelgeräusch danach an der Tür eines Appartementhauses an der hellbeleuchteten Hauptstraße einer dem Anschein nach sonntagabendlich stillenjugoslawischen Provinzstadt, die bei aller Unbekanntheit etwas Vertrautes hatte (und ich weiß jetzt, daß ich so ähnlich auch vor weit über 30 Jahren im tiefen Kroatien vor der Tür einer Jugendfreundin ankam). Dann drei gut beleuchtete und, Seltenheit in ganz Serbien, sogar warme Räume. Die Willkommenskonfitüren wieder, mit den Wassergläsern, wohinein dann die Eßlöffel gesteckt wurden; die Hausfrau, einst Archäologiestudentin in Belgrad, jetzt Sekretärin am stadtnahen Drina-Kraftwerk; die Wände im Zimmer der Tochter ausschließlich mit Postern des ewigjungen James Dean, Sarma (eine Art Krautwickel), Kajman (der Butterrahmkäse), Brot und Wein von Smederevo (wo die Donau ohne Laut fließt); zwischendurch Blicke aus den überdicht zugezogenen Vorhängen in den balkanischen Hof, an welchen ähnliche Mehrfachwohnhäuser grenzten: Schnee, Schnee und Immer-weiter-Schneien.

Und Olga, die Einheimische, die Frau aus Bajina Basta, die zugleich fast alle Filme der Welt kannte, erzählte, die Bevölkerung habe von dem Krieg in einem Kilometer Entfernung fast nichts mitbekommen. Immer wieder sollen scharenweise Kadaver von Visegrad die Drina abwärts getrieben haben, doch sie kannte niemanden, der das mit eigenen Augen gesehen hatte. Jedenfalls wurde in dem Fluß, vor dem Krieg sommers voll von Schwimmern, am serbischen und am bosnischen Ufer, hin und her, her und hin, nicht mehr gebadet, und natürlich waren auch die Schiffsausflüge eingestellt. Gar sehr fehlten ihr und ihrer Tochter die gemeinsamen Fahrten quer durch Bosnien nach Split und vor allem Dubrovnik, an die Adria, und sie selber entbehrte bitter das Zusammensein mit ihren muslimischen Freunden, ob aus Visegrad, dem ihr liebsten bosnischen Ort (Ivo Andric' 'Brücke über die Drina' spielt dort), oder aus Srebrenica, welches, flußab, noch um einiges näher lag. Und sie war überzeugt, es sei wahr, daß dort bei Srebrenica im Sommer dieses Jahres 1995 die Tausende umgebracht worden seien. Im kleinen, viel kleineren, sei so der ganze bosnische Krieg gewesen: in der einen Nacht wurde ein muselmanisches Dorf gemordschatzt, in der folgenden ein serbisches, usw. Nun waren hier in der Grenzstadt die Serben ganz unter sich, und keiner hatte dem anderen mehr etwas zu sagen. Die nagelneuen, halbeleganten Geschäfte und Bars an der Hauptstraße gehörten bosnisch-serbischen Kriegsgewinnlern, und nie würde sie da einen Fuß hineinsetzen. Sie kam durch den Monat, bei aller Bescheidenheit, nur durch die DM-Unterstützung von der Seite ihres ehemaligen Mannes, und die anderen?, waren angewiesen auf solche halbwegs abgebfähigen Nachbarschaften wie die ihre - und trotz des materiellen Mangels war die Not vor allem eine innere; abgeschnitten von der vorigen weiten Welt, immer nur unter ihresgleichen, kam ihr oft vor, sie sei tot. Fanden denn noch Liebschaften statt, wurden noch Kinder gezeugt? 'Höchstens unter den Flüchtlingen.' (Und hier lachte die noch junge und jugendliche Frau einmal sogar selber.) Zwar seien ab und zu Journalisten aus dem Westen aufgetaucht - was in diesem Fall auch Bosnien hieß -, aber die hatten alles schon im voraus gewußt, und dementsprechend waren auch ihre Fragen gewesen; keiner hatte sich für das Leben der Leute hier in der Grenzstadt auch nur ein klein wenig offen oder auch bloß neugierig gezeigt; und die UN-Beobachter waren aus ihrem Hotel bald ausgezogen, weil sie sich dort selber beobachtet fühlten.

Dort, in dem Hotel 'Drina', in ungeheizten Zimmern, schliefen dann auch Zlatko, alias Adrian, und ich. Es gab keine rechten Vorhänge, und sooft ich in jener ersten Nacht, bei der grellgelben Beleuchtung von außen, die Augen öffnete, fiel im Fenster weiter und weiter der Schnee, und das auch noch am Morgen und alle die Bajina-Basta-Tage und -Nächte lang.

Die Stadt wurde eingeschneit. Der Rückweg über den Dicken Berg war längst abgeschnitten, es blieb allein die Straße durch das Drinatal nordwärts, so erfuhr Zlatko, dessen Gesicht und Hände angeschwollen vor Frieren, von ein paar jungen Milizsoldaten, welche, ihre Maschinenpistolen in Reichweite, neben uns beim Frühstück saßen; aber ob überhaupt ein Schneepflug fuhr?

Und geradezu fröhlich wurde beschlossen, so lang wie eben nötig zu bleiben. Wir kauften uns Schuhe und Mützen für den Schnee, und angesichts der Zagheit der Verkäufer jeweils bei dem Eintritt von uns wohl sichtlich Landfremden stellte ich mir vor, die 'potentiellen Kunden' während all der Kriegsjahre hätten sich dann sämtlich als ausländische Reporter entpuppt, welche, statt je etwas zu kaufen, sich allein, für ihre Recherchen, nach den Preisen erkundigten.

Wetterfeste, wie halbuniformierte Mannsgestalten dann allüberall auf den Grenzstraßen, in den Grenzgaststätten, und unwillkürlich sahen wir, auch Zarko, der nach der Nacht bei seiner episodischen Familie, wieder dazugestoßen war, in ihnen natürlich (?) paramilitärische Killer, siehe die entsprechenden Augen, 'tötungserfahren'; wurden dann von dem mit uns gekommenen örtlichen Bibliothekar, einem Leser (zum Beispiel von Nathalie Sarraute und Fernando Pessoa), aufgeklärt, es seien das die Forstarbeiter und Waldhüter vom Dicken Berg, dieser sei so etwas wie ein Nationalpark, jedenfalls eine Art Erholungsgebiet, mit einer auf der Welt einzigartigen Fichte, einem Überlebenden aus der letzten Zwischeneiszeit; und argwöhnten in diesen Leuten dann doch wieder Bandenmitglieder, nur eben in der Verkleidung von Wald- oder Wildhütern.

Wir wanderten stadtauswärts zur Drina, zur Grenzbrücke. Vielleicht würden wir wider Erwarten doch hinüber nach Bosnien gelassen, welches dort hinter den Schneeschwaden, die Hügel und Matten jetzt scharfumrissen, jetzt verschwunden, fern und nah erschien. Ziemlich viele Menschen waren in dem hohen Schnee unterwegs, hauptsächlich aber nur Alte und Kinder, welche letzteren stadtwärts, nachdem sie wohl die Brücke überquert hatten, zur Schule gingen, mit einem mannigfaltigen, aus allen Weltrichtungen stammenden Kopfschutz, dazwischen ein Greis, den Schädel mit einem ausgefransten Handtuch umwickelt. Aus ihren Grüppchen heraus sagten diese Kinder immer wieder 'How do you do?' und schüttelten sich danach aus vor Lachen. Fast allen Entgegenkommenden, ob Jungen oder Alten, fehlten mehrere Zähne, so auch dem Grenzposten auf der serbischen Brückenseite, der uns schließlich weiterließ, freilich auf eigene Gefahr; die bosnischen Serben jenseits waren bekanntlich auf ihr Mutterland schon längst nicht mehr gut zu sprechen.

Und jetzt die Drina, breites, winterschwarzgrünes, gleichmäßig schnelles Gebirgswasser, noch dunkler, ja finster erscheinend durch die Flockendiesigkeit zu beiden Ufern. Langsames Gehen über die Brücke, der Bibliothekar, der Einheimische, wie bei jedem Schritt zur Umkehr bereit, mit einer Besorgnis im Blick nah der nackten Angst. In der Mitte zwischen den zwei Ländern dann am Geländer eine Art Lichtschrein befestigt, wie improvisiert und zugleich wie an einem buddhistischen Fluß, in meiner Vorstellung ein Behältnis für Kerzen, eine Totenleuchte für die Nacht. Doch beim Aufmachen war in der vermeintlichen Laterne nichts als Asche, voll mit Zigarettenstummeln.

Das jenseitige Grenzhaus endlich, und dort ein paar Schritte, Gedenkschritte, nach Bosnien hinein. Die zerbrochene Scheibe am Häuschen, und hinter diesem zwei Wegabzweigungen, mehr oder weniger steil bergauf. Der Grenzer mit seinem Schießblick - oder war das nicht eher eine wie unheilbare, auch unzugängliche Traurigkeit? Nur ein Gott hätte die von ihm wegnehmen können, und in meinen Augen floß die dunkle leere Drina als solch ein Gott vorbei, wenn auch als ein völlig machtloser. Nein, wir durften nicht in sein Land. Doch ließ er uns eine Zeitlang so auf dessen Schwelle stehen, schauen, hören - wir allesamt dabei ohne Neugier, mit nichts als Scheu. Über diesen bosnischen Berghang zog sich eine bäuerliche Streusiedlung, die Gehöfte jeweils in einiger Distanz voneinander, ein jedes flankiert von Obstgärten und den balkanesischen, haushohen Heukegeln oder -pyramiden. Hier und da zeigte sich sogar ein Rauchfang, der qualmte (ich hielt das zunächst für Ruinenrauch, oder war es nicht vielleicht in der Tat Ruinenrauch?). Aus den meisten Anwesen aber rauchte gar nichts, und oft fehlte nicht bloß der Rauchfang, sondern das ganze Dach, auch die Türen und Fenster darunter. Dabei seltsamerweise kaum Brandspuren, so daß diese Gehöfte dann wieder den ewig nicht fertigen, typischen Gastarbeiterhäusern Gesamtjugoslawiens glichen, und das nicht nur auf den zweiten Blick, sondern auch auf den dritten. Waren sie im Bau oder zerstört? Und wenn zerstört, so jedenfalls eher teils geradezu sorgfältig abmontiert, abgetragen, die Teile weitergeschleppt. Und unversehens kam es nun von dem Grenzstadt-Bibliothekar: 'In diesem Morast, wo einst jeder Vogel sein Lied sang, haben sich europäische Geister bewegt. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, daß ich immer mehr zum Jugoslawen werde. Für solche sind das jetzt die schwersten Zeiten. Und wenn ich überlebe, so war es für solche immer am schwersten. Ich kann nicht Serbe, nicht Kroate, nicht Ungar, nicht Deutscher sein, weil ich mich nirgends mehr zuhause fühle.' Und dann kam auch noch von meinem Freund Zarko, dem serbischen Deutschbrotesser, ein solchem Faktum eher widersprechendes Lied: 'Ob das Leben in Deutschland für mich Serben jetzt mörderisch ist? Tatsache ist, daß sich Deutschland zu einem schönen, reichen, paradiesischen Land emporgearbeitet hat. Die Welt als Maschine. Auch die Häuser sind Maschinen. Das Gekläff der Hunde auf den Straßen gleicht dem Kreischen der Maschinen in den Fabrikhallen. In den Selbstbedienungsläden ist es, als würdest du Schrauben kaufen, keine Milch. In den Schlachterläden, als würdest du Nägel kaufen, keinen Schinken. In den Apotheken, als würdest du Hämmer kaufen, kein Aspirin.'

Was mich angeht, kann ich jetzt sagen, daß ich mich kaum je so stetig und beständig in die Welt, oder das Weltgeschehen, einbezogen? eingespannt? - eingemeindet gefunden habe wie in der Folge während der ereignisreichen Schnee- und Nebeltage dort in der Gegend von Bajina Basta an dem bosnisch- serbischen Grenzfluß. Daß mir in dieser doch bedrängten Lage nichts Ungutes zustieß, nicht das geringste, hier: nur Gutes. Und die Ereignisse? Statt etwa ein altes Kloster in der Nachbarschaft zu besuchen, welches im übrigen durch das unausgesetzte Schneetreiben unzugänglich war, fuhren wir die Drina aufwärts, so immer die Grenze entlang, wo Olgas Mutter lebte, im Zweiten Weltkrieg Krankenschwester bei den Tito-Partisanen. Ihr Mann hatte sich vor ein paar Jahren wegen einer schweren Krankheit, aber mehr noch aus Kummer über das Ende seines Jugoslawiens mit seinem Partisanengewehr erschossen, und sie bewohnte nun allein ein winziges Haus (vergleichbar etwa dem eines Straßenwärters) am Fuße des Dicken Bergs, zwischen dessen Steilabfall gerade Platz für ihren Garten und einen Streifen Kartoffellands war. Obwohl die alte Frau im Zimmer den ganzen Nachmittag ihr Kopftuch aufbehielt, hatte sie, anmutig-stolz in ihrer Haltung und zugleich ständig sprungbereit, etwas von einer Befehlshaberin, oder von der einzigen weiblichen Person unter einer Hundertschaft von Soldaten, diesen gleichgestellt. Und sie würde bis an ihr Lebensende eine durchdrungene - nicht serbische, sondern jugoslawische Kommunistin sein; nicht allein für die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg - auch heute noch galt ihr das als die einzige, die einzig vernünftige Möglichkeit für die südslawischen Völker: vor dem deutschen Einfall 1941 habe es, in dem Königreich, einige wenige gegeben, welchen fast alles gehörte, und neben ihnen nichts als himmelschreiende Armut, und jetzt, in diesem serbischen Sonderstaat - dessen Machthaber, wie in den anderen Neustaaten, 'Verräter' - wiederhole sich das mit den paar allesraffenden Kriegsgewinnlern und dem frierenden Habenichtsvolk. (Und zumindest das stimmte, denn es sprang ins Auge, was Zlatko, der aus Österreich anderes gewohnte Auslandsserbe, einmal so ausdrückte: 'Das ganze Volk friert.')

Nachmittaglang saßen wir in der Grenzhütte, und als dann auf der einen Seite der Drina die Dorflichter angingen, blieb es jenseits vollkommen dunkel, oder verdunkelt?, während es vor dem Krieg von den Fenstern dort nur so hergestrahlt habe, eine Flußseite wie ein Spiegel der andern; und sie vermisse, sagte die alte Frau, die Bosnier, ob Serben oder Muslime, vor allem auch wegen des Obstes, mit dem diese, begünstigt im Obstbau durch die weniger steilen Berghänge, allherbstlich her über die Drina gekommen seien. (Auf der Rückfahrt von jenem Dorf an der Flußstraße dann die vom Autoscheinwerfer aus der Finsternis herausgeschnittenen Gestalten der hier einquartierten Flüchtlinge, zuhauf, welche seit Stunden schon warteten, in die Stadt mitgenommen zu werden - kaum ein Auto fuhr.)

Oder wir hockten auch nur, in Mäntel und Anoraks gewickelt, zu zweit, wohl als die einzigen regulären Gäste, bis weit nach Mitternacht in der längst lichterlosen Halle des Hotels 'Drina' und erholten uns von dem Gesang und Geschmetter eines 'Guslar', eines der angeblich aus der Tradition Homers kommenden Sängers serbischer Heldensagen, welcher uns zuvor einen ganzen Abend lang die Ohren gefüllt hatte, noch dazu in einer engen Privatwohnung, sein Schmettern gesteigert von dem Beiklang seiner Gusla, Streichinstrument mit einer einzigen, dabei raffiniert verzopften Saite - erholten uns da im Dunkeln, in dem wir einander weniger Heldisches, auch Blödsinniges, erzählten, oder einfach bloß auf das unendliche Flockengespindel weit auf der Hauptstraße schauten (und: stand dort das Auto noch?).

Abreise dann eines Frühnachmittags bei endlich nachlassendem Schneefall, auch da nur mehr zu zweit, weil Zarko (der angeblich 'Feurige' oder 'Glutende') noch eine Zeitlang bei seiner Tochter und in Frau Olgas Wärmestube bleiben wollte (die Deutsche Welle gab ihm noch eine Woche frei). Und flußab also ging es, nordwärts, durch das bald schon dämmrige und bald und für lang nachtschwarze Serbien, an mehr und mehr matschigen Schneehaufen vorbei, welche bei der Überquerung der Fruska Gora, dem langrückigen Berg vor Novi Sad (für den großen Serbendichter Milos Crnjanski einst nach dem Ersten Weltkrieg mehr Fremdheitsberg als Hausberg) sich noch ein letztes Mal zu eisigen Wächten aufrichteten. Und nach wieder einer Kaltnacht im Hotel 'Turist' der Vojvodina- Kapitale frühmorgendlicher Einkauf von ein paar Packungen Zigaretten der Marken 'Morawa' und 'Drina' auf dem Novi Sader Markt, und des serbisch-kyrillischen Pilzführers in einer Novi Sader Buchhandlung, beides gedacht für die Vorstadt von Paris. Und dort auch die einzige Begegnung meiner gesamten Serbienzeit mit anderen Reisenden, zwei jungen Burschen aus dem Staat New York, die mich nach einem billigen Hotel fragten und in Novi Sad einen Film drehen wollten, 'only a short one'. Und auf dem Weg zur ungarischen Grenze dann vor Subotica, weiterhin in der Bitterkälte, bei sporadisch die fast schon pußtahafte Ebene durchschießenden Schneekörnern, wie eh und je die durch das Land irrenden oder schon tot und steinhart auf die Fahrbahn gestreckten Hunde (Zlatko: 'In Rumänien liegen noch viel mehr!'); jener Spatz, der gegen die Frontscheibe krachte; und die noch und noch Rabenhorden auf dem meist leeren Asphalt, wozu mein Fahrnachbar dann einmal sagte, wie seltsam, daß immer auch noch jeweils eine Elster unter die Raben gemischt sei - gerade, als ich ihn auf ebendas aufmerksam machen wollte.

In den Jahren der jugoslawischen Sezessionskriege hatte ich mich wiederholt durch die neugegründete Republik Slowenien bewegt, einst 'meine Gehheimat'. Solches Bewußtsein der Verbundenheit wollte sich dabei jedoch keinmal mehr einstellen, nicht für einen Augenblick (der wäre nicht flüchtig gewesen). Mag sein, das lag auch an mir, an meiner vielleicht kindischen Enttäuschung, zum Beispiel angesichts des herrlichen Bergs Triglav (einst der höchste von Ganz- Jugoslawien), dort nördlich des Wocheiner Sees in den Julischen Alpen, diesen Dreikopf zugleich als Neuerdings-Umriß auf den slowenischen Staatsautoschildern und der Staatsflagge zu wissen; und vielleicht bin ich auch falsch gegangen, hätte von mir aus dort neue Wege gehen sollen und nicht die dauerndgleichen.

Und trotzdem konnte solch jähes Abwenden, solch plötzliche Verschlossenheit und Unzugänglichkeit des Landes nicht bloß in meiner Einbildung liegen. Kaum einen Monat vor unserer serbischen Reise bin ich, wie üblich allein, durch die Wocheiner Talschaft gewandert, und von dort nach Süden über das Isonzotal hinunter und hinauf zu dem Karst oberhalb von Triest. Die Wocheingegend und ihr so lebendigstiller See ganz zuhinterst, von dem es nur noch ohne Straßen, hoch in die Berge, weitergeht, ist einmal ein mythischer Ort gewesen, auch für die Serben: zumindest gibt es von deren Dichtern nicht wenige Initiationstexte (oder Zeugnisse, Aufrufe zu einem weniger alltagsblinden, dichterischen Leben), die hervorgerufen sind von dieser Gegend der 'slowenischen Brüder'.

Jetzt aber traf ich das bewährte Hotel 'Zlatorog' (= ein Fabelsteinbock), eher eine Riesenalmhütte, hinten am Talschluß vollends ausgerichtet auf die Deutschsprachigkeit, und am Eingang waren die gerahmten Photos vom einstigen Besuch Titos entfernt worden - nicht gerade schade darum - und ersetzt durch entsprechende Willy Brandts, wobei ich mich fragte, ob der nicht seinerzeit in Begleitung des Marschalls gekommen war. Und im staatlichen Fernsehen - sonst fast nur deutsche und österreichische Kanäle - wird dann wieder und wieder eine ausländische Handels- oder Wirtschaftsdelegation von strikt einheimischer Folklore angesungen, mit Hinzutritt schließlich des slowenischen Staatspräsidenten, eines einstmals doch tüchtigen und stolzen Funktionärs?, der jetzt aber in der Haltung eines Kellners, fast Lakaien, den Ausländern sein Land andient, so, als wollte es tüpfchengenau jener Aussage eines deutschen Unternehmers und Auftraggebers entsprechen, die Slowenen seien nicht dies und das, vielmehr 'ein fleißiges und arbeitswilliges Alpenvolk'. Und frühmorgens dann der im übrigen nicht unerfreuliche Supermarkt, halb schon im Bergwald, hinterm Hotel, hat, womöglich noch vor dem einheimischen 'Delo', der Tageszeitung aus Ljubljana, das deutsche Bild bereit, gleich neben den Tuben- und Dosenstapeln mit Nivea, das bißchen Slowenische da nur kleinstreifenweis über den vorherrschenden deutschen Grundtext geklebt (Satz des ersten Kunden: 'Ist Bild schon da?'). Und in dem immer noch schön ländlichen Bahnhof von Bohinjska Bistrica sind dann, natur- oder geschichtegemäß, die geradezu gemäldehaften Abbildungen der serbischen Klöster, der montenegrinischen Bucht von Kotor und des mazedonisch-albanischen Sees von Ohrid ersetzt worden - nicht einmal durch reinslowenische Landschaften, sondern durch Drucke von Kinderzeichnungen. Ein kindlicher Staat also? Nur will es mir dazu nicht aus dem Sinn, wie, auch bei allen Reisen zuvor durch den neuen Staat, auf der verläßlich sanftweiten Karsthochfläche dann die Zugänge zu ähnlichen Bahnhöfen, und wenn die noch so fern draußen in der Wildnis lagen, plakatiert waren mit noch und noch staatlichen Aufforderungen zur (europawürdigen) Säuberlichkeit in der Landschaft und zur gegenseitigen Wachsamkeit diesbezüglich - wozu jeweils auch paßte, daß die zu hörende und nicht zu überhörende Rundfunkmusik im ganzen Land, wenn nicht kleinvolkstümlich, ausnahmslos als vornehme europäische Klassik erscholl, eine Art, selbst mit den hellsten Stücken eines Mozart oder Haydn das Reisendengemüt zu verfinstern.

Und einmal war ich so unterwegs gewesen zu dem grauweißen Kalksteinbahnhof weit außerhalb des Karstdorfes Dutovlje. Und beim Einbiegen dort von der Überlandstraße vermißte ich in dem Irren- und Siechenhaus an der sonst unbebauten Ecke das sonst während sämtlicher Wanderjahre da zu den Fenstern heraustönende Kreischen, Heulen und Zähneknirschen der Insassen: es war ausgewechselt, entweder durch diskrete Stummheit hinter diesem Fenster oder gedämpfte Radioklavierkonzerte hinter jenem; und ging dann weiter zu der Station, wo aus dem alten, schwarzgebohnerten Wartesaal überhaupt jegliches Wandbild aus dem früheren Jugoslawien entfernt worden war, statt dessen am Bahnhofseingang wieder so ein öffentlicher Entschmutzungsaufruf; und sah dann am Wegende, vor der Karstsavanne, einen Lastwagen geparkt, mit einem Kennzeichen aus Skopje/Mazedoni en, früher auf den slowenischen Straßen keine Seltenheit, jetzt freilich eine Einmaligkeit, dazu der Fahrer bei der Rast, draußen im Steppengras, allein weit und breit, wie aus den Jahren vor dem Krieg übriggeblieben; und hörte dann die Kassette aus seinem Transistor, eine ziemlich leise gestellte orientalische, fast schon arabische Musik, wie sie hier einst mit tausend anderen Weisen mitgespielt hatte und inzwischen sozusagen aus dem Luftraum verbannt war; und der Blick des Mannes und der meine begegneten einander, momentlang, lang genug, daß das, was sich zwischen uns ereignete, mehr war als bloß ein gemeinsamer Gedanke, auch etwas Tieferes: ein gemeinsames Gedächtnis; und obwohl sich das Umland durch den Klang jetzt neu zu öffnen und zu strecken schien bis in den fernsten, gleich schon griechischen Süden, verpuffte solch kontinentales Gefühl (im Gegensatz zum 'ozeanischen' herzhaft) fast zugleich, und es zuckte nur ein Phantomschmerz durch die Luft, ein gewaltiger, mit Sicherheit nicht bloß persönlicher.

Danach, durch Serbien reisend, hatte ich dagegen keinerlei Heimat zu verlieren. Nicht, daß das Land mir fremd war, in dem Sinn wie einst das baskische Bilbao, vor allem mit seiner Schriftsprache, so befremdlich wirkte, daß ich dort einmal beim Betreten eines öffentlichen Pissoirs erwartete, selbst die Pißbecken dort würden unerhörte, nie gesehene Formen zeigen oder hoch oben an den Wänden angebracht sein statt unten am Boden. Nein, weder wurde ich in Serbien etwa heimisch, noch aber erlebte ich mich je als ein Fremder, im Sinn eines Unzugehörigen oder gar vor den Kopf Gestoßenen. Beständig blieb ich ein Reisender, ja, ein Tourist, wenn auch jener neuen Art, welche seit kurzem die Reiseforscher oder -wissenschaftler dem 'Urlauber' als 'nachhaltiges Reisen' vorschlagen. Denn das Reisen - siehe das Reiseblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. November 1995 - möge 'endlich als wertvolles Gut begriffen werden', was schwer sei, 'solange die Wahl des Reiseziels abhängig ist vom Prestige, das ihm anhaftet'; kein 'anbieter-, sondern nachfrageorientiertes' Reisen - nur so erfahre der Urlauber, 'was seine Reise bewirkt'; kurz: 'nachhaltiger Tourismus'.

Im serbischen Fall nachhaltig wie? Zum Beispiel ist mir von dort das Bild einer, im Vergleich zu der unsrigen, geschärften und fast schon kristallischen Alltagswirklichkeit geblieben. Durch den Kriegszustand? Nein, vielmehr durch ein sich offensichtlich europaweit geächtet wissendes ganzes, großes Volk, welches das als unsinnig ungerecht erlebt und jetzt der Welt zeigen will, auch wenn diese so gar nichts davon wahrnehmen will, daß es, nicht nur auf den Straßen, sondern ebenso abseits, ziemlich anders ist.

Geblieben ist mir, gerade in der eben kristallscharf zu spürenden Vereinzelung fast eines jeden dort, überhaupt erst etwas wie das sonstwo wohl zu Recht längst totgesagte 'Volk': faßbar, indem dieses im eigenen Land so sichtlich in der Diaspora haust, ein jeder in der höchst eigenen Verstreutheit (dazu bei meiner Rückkehr in dem Vogelschlafbaum am Vorstadtbahnhof die nachts vor Kälte geplusterten Vögel, jeder im Abstand zum andern, und zwischen den Leibern auch hier der fallende Schnee). Und geblieben oder nachhaltig ist, ganz profan gesprochen, einfach schon das Reisen in einem reinen Binnenland, sogar fast ohne natürliche Seen, nur mit Flüssen, aber was für welchen! - wer einmal so ein zünftiges Binnenland erleben möchte, einzig Flüsse, kein Meer weit und breit: auf mit ihm nach Serbien.

Und nachhaltig ist mir zuletzt vor allem das: Niemand kennt Serbien - frei nach der Erzählung von Thomas Wolfe, 'Nur die Toten kennen Brooklyn'.

Und wenn ich auf sonstigen nachhaltigen Reisen, allein unterwegs, oft mir vorstellte oder wünschte, sie zu wiederholen in ausgewählter Gesellschaft, so wünschte ich mir diesmal, beinah ständig in einer solchen, mich in dem Land einmal ganz allein zu bewegen, und auch kaum im Auto: statt dessen im Bus und am meisten zu Fuß.

Epilog: Gerechtigkeit für Serbien

Aber bin ich in Serbien nicht einmal doch ganz allein gewesen? Das war an einem der Schneetage in der Grenzstadt Bajina Basta. Noch in der Morgendämmerung machte ich mich auf den Weg, mit zwei Zielen (eingedenk meiner Lieblingsredensart 'Dazu hättest du früher aufstehen müssen!'): Autobusbahnhof, und Drina, nicht bei der Brücke hinüber nach Bosnien, sondern irgendwo außerhalb, möglichst weit hinter den Häusern und Gärten, wo sie zwischen den Feldern und Viehweiden flösse, hüben und drüben.

Es war und blieb ein dunkler Tag, mit den Gebirgen allerseits in Schneewolken. Schon den Busbahnhof mußte ich langwierig suchen, es gab keine Hinweisschilder, und fragen wollte ich nicht. Er lag dann, wie erwartet ein Flachbau, in einer durch einen Drina-Zufluß geschaffenen Senke, gegenüber das erste mir in Bajina Basta vor Augen kommende Haus mit einem Kreuz obenauf, sonst gar nicht kirchenhaft.

Im Busschalterraum die monumentalgemäldegroße Tabelle der Zielorte. Geradezu kalligraphisch hier die inzwischen geläufigen kyrillischen Schriftzeichen:Beograd, und darunter, am Ende,und, Srebrenica und Tuzla. Diese mächtige, dabei wie altertümliche Tafel galt jedoch nicht mehr. Der gegenwärtige Fahrplan war in einer Ecke darübergeklebt, ein kleinwinziges, formlos beschriftetes Stück Papier, und unter anderem gab es auch zu den zwei letztgenannten Orten keine Abfahrten mehr. Das Kaffeehaus daneben, eine Art Barackenhalle, war leer - bis auf eine alte Frau an einem sehr großen Tisch, dann als Wirtin oder Bedienung auftretend, zwei Schachspieler, die in der folgenden halben Stunde ungefähr zwanzig Partien Blitzschach spielten, und den einsamen Lokalältesten weit weg in einem Winkel, von wo aus er die ganze Zeit lauthals in den Raum hinein sprach, nicht für sich, sondern dringlich auf der Suche nach einem Zuhörer (der ausblieb).

Die Wanderung dann, querfeldein, fern von den letzten Stadtrandhäusern, wollte ich bald aufgeben: hoher, nasser Schnee, der in die Schuhe rutschte, und zudem keinerlei Schrittspuren vor mir, wie zur Warnung. Und hatte ich die Drina nicht schon zur Genüge betrachtet? Und dennoch ging es, gingen die Beine, wie übrigens nicht zum ersten Mal in solchen Lagen, beständig weiter, auf den dunklen Auenstreifen zu, welcher Grenze und Fluß markierte. (In jenem rein-Kroatisch-Wörterbuch stand dazu für 'luka', Aue, nur noch die dem kroatischen Meerland entsprechende Bedeutung 'Hafen', während ich in einem anderen, einem Vorkriegs- Wörterbuch, dann noch 'Prärie' fand.) Ob ich vom anderen Ufer betrachtet wurde? Nichts rührte sich dort in den Ruinen, oder doch unvollendeten Neubauten?, nein, Ruinen, und diesseits und jenseits wieder die haushohen, schwärzlichen, wie schon jahrealten Heukegel. Und endlich, nach der Durchquerung einer Senke, worin alle die Klein-Vögel versammelt schienen, die ich zuvor auf der Reise durch Serbien so vermißt hatte, die Spatzen, die Meisen, die Rotkehlchen, die Zaunkönige, die Wiedehopfe, die Kolibris (nein, diese nicht), endlich, jetzt oben von einem kahlen Damm aus gesehen, wieder die Drina, schnell dahinströmend, breit, tiefgrün schimmernd, und fast fühlte ich mich dann, die Böschung hinabrutschend, an unabgeernteten, im Wind flappenden Maisäckern vorbei, zwischen den dichten Auenbüschen mehr in Sicherheit als auf dem Damm eben.

'Weiter gehst du aber nicht!' - und schon ging es, gingen die Beine zu den Büschen hinaus schnurstracks zum Ufer, an einem noch frischen Erdaushub vorbei, worin Massen von Patronenhülsen lagen (nein, doch nicht). Und ich hockte mich da hin, wobei der Fluß sich noch um einiges breiter dehnte, von den Spitzen der serbischen Winterschuhe bis zum bosnischen Ufer nichts als das kaltrauchige Drinawasser, in welches die großen, nassen Flocken einschlugen, wobei ich mich bei dem Gedanken ertappte, ob ich auch in einem deutsch-deutschen Krieg so an einem Grenzfluß hätte hocken können. Flußaufwärts, vielleicht kaum dreißig Kilometer weg, sollte das Gebiet der Enklave von Srebrenica beginnen. Eine Kindersandale dümpelte zu meinen Füßen. 'Du willst doch nicht auch noch das Massaker von Srebrenica in Frage stellen?', sagte dazu S. nach meiner Rückkehr. 'Nein', sagte ich. 'Aber ich möchte dazu fragen, wie ein solches Massaker denn zu erklären ist, begangen, so heißt es, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, und dazu nach über drei Jahren Krieg, wo, sagt man, inzwischen sämtliche Parteien, selbst die Hunde des Krieges, tötensmüde geworden waren, und noch dazu, wie es heißt, als ein organisiertes, systematisches, lang vorgeplantes Hinrichten.' Warum solch ein Tausendfachschlachten? Was war der Beweggrund? Wozu? Und warum statt einer Ursachen-Ausforschung ('Psychopathen' genügt nicht) wieder nichts als der nackte, geile, marktbestimmte Fakten- und Scheinfakten-Verkauf?

Und weiter hockte ich so an der Drina und dachte, oder es dachte in mir, an das Visegrad des Ivo Andric, vielleicht fünfzig Kilometer flußauf - und insbesonders an jene in der 'Brücke über die Drina' (eigentlich: 'Auf der Drina eine Brücke'), geschrieben während des Zweiten Weltkriegs in dem deutschbesetzten Belgrad, so messerscharf dargestellte Stadtchronistenfigur, einen Mann, der während all seiner Aufschreiberjahre von den örtlichen Ereignissen kaum etwas festhält, nicht etwa aus Faulheit oder Nachlässigkeit, vielmehr aus Eitelkeit und vor allem Hochmut - die Geschehnisse, gleich welche, sind ihm schlechterdings nicht festhaltenswert.

Und weiter dachte ich (oder dachte es) dort, und ich denke es hier ausdrücklich, förmlich, wörtlich, daß mir allzu viele der Berichterstatter zu dem Bosnien und dem Krieg dort als vergleichbare Leute erscheinen, und nicht bloß hochmütige Chronisten sind, sondern falsche.

Nichts gegen so manchen - mehr als aufdeckerischen - entdeckerischen Journalisten, vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des Orts verwickelt), hoch diese anderen Feldforscher! Aber doch einiges gegen die Rotten der Fernfuchtler, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln und, über die Jahre immer in dieselbe Wort- und Bildkerbe dreschend, von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet.

Was war das etwa für ein Journalismus, wie etwa der, fort- und fortgesetzt, im deutschen Spiegel, wo Karadzic 'zuerst dröhnte' und dann 'einknickte', und wo bei einem Abendessen jetzt während der Friedensverhandlungen im Militärcamp von Dayton - die bundesrepublikanischen Unterhändler sind dort, vom allwissenden Wochenblatt unter der Hand gesagt, natürlich die letztlich bestimmenden - einer der Teilnehmer folgend geschildert (?) wird: 'Zwischen Kampfbombern und einer Attrappe der Nagasaki-Atombombe schien es vor allem Serben-Präsident Slobodan Milosevic zu behagen?' (Wenn der Kroaten-Präsident Tudjman ein bekanntes, allzubekanntes, oder, hätte man früher gesagt, 'sattsam bekanntes' Übel ist, so zeigt sich daneben Milosevic, wenn er denn ein Übel ist, doch ein bis heute ziemlich unbekanntes, welches von einem Journalisten zu erforschen wäre, anstatt zu beflegeln und zu denunzieren.) Und was ist das für ein Journalismus, in dem, eine Woche später, die durch den Vertrag unter die Macht desMoslemstaats gekommenen Serben von Sarajewo, wobei die Spiegelsprache auf einmal von ihrer handelsüblichen Niedrigkeit überwechselt zu Biblischem, sich 'betrogen sehen um ihren Judaslohn'? (Wozu der unvermeidliche 'Balkan-Experte' in Le Monde dann unnachahmlich meinte, dort unten hätten 'heutigentags sehr wenige die Lust, in Gebieten zu leben, wo nicht die Vertreter des eigenen Volkes die Gesetzgeber sind' - heutigentags erst? Und nur dort im Balkan?) Der Spiegel ein Deutschen-Spiegel der besonderen Art.

Wohlgemerkt: hier geht es ganz und gar nicht um ein 'Ich klage an'. Es drängt mich nur nach Gerechtigkeit. Oder vielleicht überhaupt bloß nach Bedenklichkeit, Zubedenken-Geben.

So kann ich zum Beispiel recht gut verstehen, daß der ständige Bosnien-Spezialentsandte von Libération, vor dem Krieg alles andere als ein Jugoslawienkenner, vielmehr ein quicker, stellenweise vergnüglich zu lesender Sportjournalist (brillierend vor allem bei der Tour de France), für seine Depeschen aus dem Kriegsgeschehen solche und solche Helden und daneben den gestaltlosen, uninteressanten, stieren Verlierer oder Unter-ferner- liefen-Pulk im Auge hat - doch wieso muß er sich dann öffentlich belustigen über die 'Absurdität' und die 'Paranoia' dort in den serbischen Sarajewo-Bezirken, wenn er auf Transparenten die Frage liest: 'Brauchen wir einen neuen Gavrilo Princip?' So wie ich es auch verstehe - freilich schon weniger gut -, daß so viele internationale Magazine, von Time bis zum Nouvel Observateur, um den Krieg unter die Kunden zu bringen, 'die Serben' durch Reihe und Glied dick und fett als die Bösewichter ausdrucken und die 'Moslems' als die im großen und ganzen Guten. Und es interessiert mich sogar inzwischen, wie in dem zentralen europäischen Serbenfreßblatt, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, deren Haßwortführer dort, deren Grundstück des Hasses, ein fast tagtäglich gegen alles Jugoslawische und Serbische im Stil (?) eines Scharfrichters leitartikelnder ('ist zu entfernen', 'ist abzutrennen', 'hat kaltgestellt zu werden') Reißwolf & Geifermüller - interessiert mich, wie dieser Journalist zu seiner Ausdauer im Wortbeschuß, von seinem deutschen Hochsitz aus, wohl gekommen sein mag. Ich vermochte diesen Mann samt seinem Schaum nie zu verstehen, doch inzwischen drängt es mich dazu: Kann es sein, daß er, daß seine Familie aus Jugoslawien stammt? Ist er, oder seine Familie vielleicht, wie etwa die deutschsprachigen Gottscheer, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem totalitärkommunistischen Titostaat gejagt worden, unschuldig, unterLeiden, als Opfer, als Enteigneter, nur weil er oder die Familie eben deutsch war? Wird dieser Schreiber vielleicht endlich einmal der Welt, statt mit seinen Hackbeil-Artikeln vom zerwetzten Riemen zu ziehen, erzählen, woher seine nimmermüde zerstörerische Wut auf Jugoslawien und Serbien rührt? Aber natürlich handelt (ja, handelt) er nicht allein; die ganze Zeitung weiß, was sie tut - im Gegensatz, scheint mir, zu dem und jenem bundesrepublikanischen Politiker seinerzeit beim Kurz-und- Kleinschlagen Jugoslawiens: an der Oberfläche hin und wieder von hellköpfiger, erfreulicher Vernunft, ist sie in ihrem Kern das Organ einer stockfinsteren Sekte, einer Sekte der Macht, und noch dazu einer deutschen. Und diese äußert jenes Gift ab, das nie und nimmer heilsam ist: das Wörtergift.

Und weiter dachte ich dort an der November-Drina, und denke jetzt hier an einem ähnlich winterlichen, nur stillen Waldweiher, über den gerade die Dutzende Hubschrauber mit den Staatsleuten

aus aller Herren Länder hinwegdonnern, auf dem Weg vom Militärflughafen Villacoublay zur Unterzeichnung des Friedensvertrags in Paris, am 14. Dezember 1995: Ob solch ein mechanisches Worteschleudern zwischen den Völkern, auch wenn zwischen Generationen dann darüber geschwiegen würde, vielleicht erblich ist, so wie ich es, in bezug auf die Serben, bei meinen Österreichern erlebt habe, einerseits als das alte gegen die Imperiumskiller gerichtete 'Serbien muß sterbien', andererseits als das wie neue, leutselig-herablassend an die alpenländischen Slowenen gerichtete: 'Kommt's doch zu uns!'? Würde je ein Friede geschaffen und erhalten von solchen blindwütigen Reflexmenschen quer durch die Generationen? Nein, der Friede ging nur so: Laßt die Toten ihre Toten begraben. Laßt die jugoslawischen Toten ihre Toten begraben, und die Lebenden so wieder zurückfinden zu ihren Lebenden.

Und ich dachte und denke: Wo war denn jene 'Paranoia', der häufigste aller Vorhalte gegen das Serbenvolk? Und wie stand es dagegen mit dem Bewußtsein des deutschen (und österreichischen) Volkes von dem, was es im Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan noch und noch angerichtet hat und anrichten hat lassen? War es bloß 'bekannt', oder auch wirklich gegenwärtig, im allgemeinen Gedächtnis, ähnlich wie das, was mit den Juden geschah, oder auch bloß halb-so-gegenwärtig, wie es heute noch, quer durch die Generationen, den betroffenen Jugoslawen ist, die sich dafür aber von den Weltmedienverbänden einen Verfolgungswahn angedreht sehen müssen, ein 'künstliches kaltes Erinnern', ein 'infantiles Nicht-vergessen-Wollen' - es sei denn, es ginge zwischendurch um die auf einmal heißen, brandaktuellen, nachrichtendienstlichen Balkanverwicklungen eines österreichischen Präsidentschaftskandidaten? War solch ein deutsch-österreichisches bloßes Bescheidwissen, aber Nichts-und-aber-nichts-gegenwärtig-Haben denn nicht eine noch ganz andere Geistes- oder Seelenkrankheit als die sogenannte Paranoia? Ein sehr eigener Wahn?

Und nicht als ein Paranoiker-Land hatte zumindest ich auf meiner Reise Serbien gesehen - vielmehr als das riesige Zimmer eines Verwaisten, ja, eines verwaisten, hinterlassenen Kindes, etwas, das mir während all der Jahre keinmal in Slowenien begegnet war (aber vielleicht, siehe oben, war ich nur falsch gegangen: Schnauzte denn nicht kürzlich noch einer aus dem Machtsektenorgan neu gegen das kleine Land, es liebäugele 'mit Althergebrachtem' und halte fest 'am unsicheren Balkan'?), und mir von Kroatien nicht vorzustellen vermochte, obwohl dabei die große jugoslawische Idee einst von dort ausgegangen war? Aber wer weiß? Was weiß ein Fremder?

Und ich steckte die Hände in das Drinawinterwasser und dachte, und denke es jetzt: Ob es denn meine Krankheit sei, nicht so schwarzseherisch sein zu können wie der Ivo Andric in seinem dabei dauerhaft lehrreichen Drina-Epos, unfähig zu sein zu seinem Gewißbild einer alle Jahrhunderte einmal zwischen den bosnischen Völkern wie naturnotwendig neuausbrechenden Kriegskatastrophe? War Andric nicht ein Menschenkenner, so scharf, daß ihm davon manchmal die Menschen-Bilder verblichen? Sollte denn mit der Drina hier bis ans Ende der Zeiten die Aussichtslosigkeit dahinströmen?Und eins der Floße von früher zog da jetzt vor meinen Augen vorbei, obendrauf die berühmte Gestalt eines sblava, eines Drinaflößers - aber nein, nichts da. Und am bosnischen Ufer schmetterten jetzt die Zigeunertrompeten, aus Kusturicas Film?, den berühmten 'Drina-Marsch' - aber nein, gar nichts.

Und ich dachte angesichts der Drina und denke es nun auch hier an dem Schreibtisch: Hat es meine Generation bei den Kriegen in Jugoslawien nicht verpaßt, erwachsen zu werden? Erwachsen nicht wie die so zahlreichen selbstgerechten, fix- und-fertigen, kastenhaften, meinungsschmiedhaften, irgendwie weltläufigen und dabei doch so kleingeistigen Mitglieder der Väter-und-Onkel-Generation, sondern erwachsen wie? Etwa so: Fest und doch offen, oder durchlässig, oder mit jenem einen Goethe-Wort: 'Bildsam', und als Leitspruch vielleicht desselben deutschen Welt-Meisters Reimpaar 'Kindlich/ Unüberwindlich', mit der Variante Kindlich-Überwindlich. Und mit dieser Weise Erwachsenseins, dachte ich, Sohn eines Deutschen, ausscheren aus dieser Jahrhundertgeschichte, aus dieser Unheilskette, ausscheren zu einer anderen Geschichte.

Aber wie verhielt sich meine Generation vor Jugoslawien, wo es, und darin war der neue Philosoph Glucksmann im Recht, für unsereinen um die Welt ging, dabei aber grundanders als damals im Spanischen Bürgerkrieg: um das reelle Europa, parallel zu dem das übrige Europa zu konstruieren gewesen wäre? Ich kenne dazu von den mir etwa Gleichaltrigen fast nur das lieblose, kalte Schmähen Joseph Brodskys, augen- und nuancenlos, wie mit einem rostigen Messer geführt, gegen die Serben, in der New York Times, und einen ebenso mechanischen, feind- und kriegsbildverknallten, mitläuferischen statt mauerspringerischen Schrieb des Autors Peter Schneider für das Eingreifen der NATO gegen die verbrecherischen Bosno- Serben, überdies vor seinem deutschen Erscheinen schon französisch zu lesen in Libération, und italien- und spanienwärts wo? - Erwachsenwerden, Gerechtwerden, keinen bloßen Reflex mehr verkörpern auf die Nacht des Jahrhunderts und die so noch verfinstern helfen; aufbrechen aus dieser Nacht. Versäumt? Die nach uns?

Aber ist es, zuletzt, nicht unverantwortlich, dachte ich dort an der Drina und denke es hier weiter, mit den kleinen Leiden in Serbien daherzukommen, dem bißchen Frieren dort, dem bißchen Einsamkeit, mit Nebensächlichkeiten wie Schneeflocken, Mützen, Butterrahmkäse, während jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica, von Bihac, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind? Ja, so habe auch ich mich oft Satz für Satz gefragt, ob ein derartiges Aufschreiben nicht obszön ist, sogar verpönt, verboten gehört - wodurch die Schreibreise eine noch anders abenteuerliche, gefährliche, oft sehr bedrückende (glaubt mir) wurde, und ich erfuhr, was 'Zwischen Scylla und Charybdis' heißt. Half, der vom kleinen Mangel erzählte (Zahnlücken), nicht, den großen zu verwässern, zu vertuschen, zu vernebeln? Zuletzt freilich dann dachte ich jedesmal: Aber darum geht es nicht. Meine Arbeit ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten. Kommst du jetzt mit dem Poetischen? Ja, wenn dieses als das gerade Gegenteil verstanden wird vom Nebulösen. Oder sag statt 'das Poetische' besser das Verbindende, das Umfassende - den Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit. Wie das? Was ich hier aufgeschrieben habe, war neben dem und jenem deutschsprachigen Leser genauso dem und jenem in Slowenien, Kroatien, Serbien zugedacht, aus der Erfahrung, daß gerade auf dem Umweg über das Festhalten bestimmter Nebensachen, jedenfalls weit nachhaltiger als über ein Einhämmern der Hauptfakten, jenes gemeinsame Sich-Erinnern, jene zweite, gemeinsame Kindheit wach wird. 'An einer Stelle der Brücke war jahrelang ein Brett locker.' - 'Ja, ist dir das auch aufgefallen?' 'An einer Stelle unter der Kirchenempore bekamen die Schritte einen Hall.' - 'Ja, ist dir das auch aufgefallen?' Oder einfach von der, unser aller, Gefangenschaft in dem Geschichte- und Aktualitäten-Gerede ablenken in eine ungleich fruchtbarere Gegenwart: 'Schau, jetzt schneit es. Schau, dort spielen Kinder' (die Kunst der Ablenkung; die Kunst der wesentlichen Ablenkung). Und so hatte ich dort an der Drina das Bedürfnis, einen Stein ins Wasser tanzen zu lassen, gegen das bosnische Ufer hin (fand dann nur keinen).

Das einzige, was ich mir auf der serbischen Reise notierte, war - neben 'Jebi ga!', Fick ihn, geläufiger Fluch - eine Stelle aus dem Abschiedsbrief jenes Mannes, der, ehemaliger Partisan wie seine Frau, nach dem Ausbruch des Bosnienkrieges sich das Leben genommen hatte. Und hier notiere ich es noch einmal, in der gemeinsamen Übersetzung von Zarko Radakovic und Zlatko Bocokic, alias Adrian Brouwer: 'Der Verrat, der Zerfall und das Chaos unseres Landes, die schwere Situation, in die unser Volk geworfen ist, der Krieg (serbokroatisch 'rat') in Bosnien-Herzegowina, das Ausrotten des serbischen Volkes und meine eigene Krankheit haben mein weiteres Leben sinnlos gemacht, und deswegen habe ich beschlossen, mich zu befreien von der Krankheit, und insbesondere von den Leiden wegen des Untergangs des Landes, um meinen erschöpften Organismus, der das alles nicht mehr aushielt, sich erholen zu lassen.' (Slobodan Nikolic, aus dem Dorf Perucac bei Bajina Basta an der Drina, 8. Oktober 1992.)

Leserreaktionen auf Handkes Text "Gerechtigkeit für Serbien"

Als Peter Handkes Reisebericht in der Süddeutschen Zeitung erschien, waren die Reaktionen gemischt. Im Folgenden dokumentieren wir Leserbriefe, die nach Veröffentlichung beider Teile von Handkes Text in der Wochenendausgabe der SZ vom 20. Januar 1996 gedruckt wurden.

Die Ebenen von Gesellschaft und Staat vermischt

Ist es einem Autor möglich, 'allein dem Augenschein, der eigenen Erfahrung zu vertrauen', wie dem Leser von Handkes 'Gerechtigkeit für Serbien' von der Redaktion suggeriert? Hierauf sich zu berufen, ist eine bei Autoren von Reiseberichten beliebte Beglaubigungsstrategie, als könnten (und wollten) sie sich freimachen von selbstgesetzten und fremdbestimmten Filtern bei Wahrnehmung und Wiedergabe.

Handke bietet in seinem Text letztlich sehr wenige Informationen über das heutige Serbien, die über individuelle Impressionen hinausgingen. Es entsteht nur ein diffuses Bild, das zusammengehalten wird von einem Grundton: Serbien sei, wie auch im Titel implizit gesagt, Unrecht widerfahren.

Dabei vermischt der Autor die Ebenen Gesellschaft und Staat. Die serbische Gesellschaft ist weder kollektiv unschuldig noch kollektiv schuldig; eines von beidem zu unterstellen, wäre die verweigerte Gerechtigkeit. Jeder einzelne ist an seinen Taten und Worten zu messen. - Der Staat Serbien hingegen, verkörpert in seiner politischen Führung, ist mit Sicherheit am meisten verantwortlich für den blutigen Zerfall Jugoslawiens; der Anfang war nicht, wie von Handke unterstellt und in der 'Chronologie' noch einmal aufgenommen, die Unabhängigkeitserklärung von Kroatien und Slowenien, sondern die gewaltsame Zerschlagung der Autonomie des Kosovo.

Der Krieg begann nicht mit den Unabhängigkeitserklärungen, sondern mit dem Einsatz der Waffen durch 'Jugoslawische Volksarmee' und serbische Freischärler.

Dr. Ludwig Steindorff Heerdestraße 19 48149 Münster

Ein schöner, aber kein politischer Text

Ich könnte mir vorstellen, daß man später sagen wird, in Literaturkalendern oder Almanachen der Kritik: Das ist ein schöner Text über eine schöne und tragische geschichts- und totengetränkte europäische Landschaft, genannt Serbien, die sich selbst mit ziemlich komischer Sturheit immer noch Jugoslawien nennt. Aber eines wird man diesem Text (und seinem Autor) nicht nachsagen können: daß es ein politischer Text ist, er reibt sich allenfalls an Rändern der politischen Realität. Er reibt sich an FAZ (zu Recht), Spiegel, Le Monde und tutti quanti. Nebenbei bemerkt, nicht an der Süddeutschen Zeitung, zum Beispiel nicht an Peter Sartorius großen Seite-3-Geschichten. Aber so ist das mit der kognitiven Differenz und Distanz eines Peter Handke.

Entschuldigung, man kann nicht als Träumer durch die Welt gehen und dann 'Gerechtigkeit für S.' schreiben. Ein Beispiel, und dann reicht es mir, sonst müßte ich ja genauso impressionistisch und lang schreiben wie unser franko-serbo-jugophiler Autor: 'Weshalb wurden solche Serben kaum je in Großaufnahmen gezeigt, und kaum je einzeln, sondern fast immer nur als Grüppchen, und fast immer nur im Mittelpunkt, oder fern, im Hintergrund, und auch kaum je, anders als ihre kroatischen oder muselmanischen Mitleidenden, mit dem Blick voll und leidensvoll in die Kamera, vielmehr seit- oder bodenwärts wie Schuldbewußte?'

Ja, ganz einfach, ich habe kein Visum mehr seit zwei Jahren bekommen, weil ich den Zensoren in Belgrad zu genau das Zusammenschlagen von Kosovo-Albanern durch serbische schwerstbewaffnete Polizisten beschrieben habe. Trotz Bemühungen von Serben in Banja Luka, des Auswärtigen Amtes, des deutschen Geschäftsträgers in Belgrad war es nicht möglich, mir die Möglichkeit als Journalist und Humanitärer zu geben, dorthin zu gehen, um das zu tun, dessen Fehlen Handke beklagt. Um des Linsengerichts eines Visums werde ich nicht darauf verzichten, genau und kompromißlos die Lage der armen Schweine zu beschreiben, die unten sitzen, ganz unten. So wie ich das vor zwei Wochen mit Entsetzen bei den in Grbavica ausgesetzten einsamen alten Serben getan habe.

Ach, Handke: wie gesagt ein schöner Text, aber an solchen Stellen reichlich naiv und glotzend. Aber 'man' ist ja feingliedriger Schriftsteller, gehört nicht zur Krethi-und-Plethi-'Auslandsreporterhorde'. Wie anständig und adelig, Peter Handke, und wie großartig. Gerechtigkeit für Peter Handke!

Rupert Neudeck Komitee Cap Anamur Deutsche Not-Ärzte e.V. Kupferstraße 7 53842 Troisdorf

Ein Außenseiter mußte kommen . . .

Ich möchte Klaus Podak herzlich zum ungekürzten Abdruck von Peter Handkes Report und Bekenntnis 'Gerechtigkeit für Serbien' beglückwunschen, der - hier ist das Wort einmal am Platze - ein 'Ereignis' zu nennen ist. Ein Literat, ein 'Außenseiter' mußte kommen, die Proportionen in einer monatelang skandalös verzerrten berufspublizistischen 'Berichterstattung' und Kommentierung in 95% der deutschen Medien (und nicht nur dieser!) wiederherzustellen. (Auch die Süddeutsche machte bei der von Handke beanstandeten Einseitigkeit leider nur selten eine Ausnahme. Noch im Jahresrückblick von Herrn Dr. Joffe hieß es in befremdlicher Formulierung: '. . . erst als die amerikanischen Marschflugkörper zugeschlagen hatten, verstanden die Serben, daß ihr letztes Stündlein gekommen war.'!)

Heinz Puknus, M. A. Kemnatenstraße 35 80639 München

Selber verwirrt

Nun reiht sich auch Peter Handke in die Reihe der meist linken Intellektuellen ein, die ob der Komplexität des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien selber verwirrt wurden. Damit befindet er sich, wenn ich u. a. an Peter Glotz und Hans Magnus Enzensberger denke, in guter Gesellschaft. Ich nehme an, daß Peter Handke weder die 13 Berichte des VN- Berichterstatters Tadeusz Masowiecki gelesen hat, noch den Bericht der VN- Kommission zur Untersuchung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien oder Berichte der Helsinki Federation, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen.

Eine Bemerkung Handkes hat mein besonderes Interesse geweckt, wenn er schreibt: 'Wieder so eine eigenmächtige Staatserhebung durch ein einzelnes Volk - wenn die serbokroatisch sprechenden, serbischstämmigen Muselmanen Bosniens denn nun ein Volk sein sollten.' Auch wenn die Staatsgründung Bosniens 1992 etwas anders verlaufen ist als durch einen einseitigen Akt der 'Muselmanen', wie kürzlich in der im ZDF ausgestrahlten BBC-Serie gut zu sehen war, stoße ich mich an dem Wort 'serbischstämmig'. Mit dieser Behauptung befindet sich Handke ebenfalls in guter Gesellschaft. Ende Mai hat der VN-Vermittler und ehemalige norwegische Außenminister Stoltenberg in einer, wenn auch nicht in Deutschland, vielbeachteten Rede in Oslo behauptet, daß die Bewohner Bosniens und damit auch die Muslime eigentlich Serben seien, und dies wie Handke im Brustton der Überzeugung. Dies aber ist nicht nur historisch falsch (s. Sima Cirkovic, Istorija Srednevekovne Bosne, Ivo Banac, The Nationality Question in Yugoslavia und Noel Malcolm, Bosnia A Short History sowie in zwei Beiträgen in Lettre International 4/1995). Das Argument, daß die Muslime eigentlich serbischer Abstammung sind, ist seit dem 19. Jahrhundert ein Schlüsselargument des großserbischen Nationalismus, mit dem Bosnien für Serbien beansprucht wird.

Gudrun Steinacker Gotenstraße 138 53175 Bonn

Unglaubwürdig

Peter Handkes sogenannter 'Reisebericht' verdient diese Bezeichnung nicht, und der Titel 'Gerechtigkeit für Serbien' ist eine Zumutung. Zunächst: Ein Autor, der die Berichterstattung und Kommentierung französischer und deutscher Zeitungen über den Konflikt im früheren Jugoslawien in den Mittelpunkt seiner mitunter scharfsinnigen, jedoch oft polemischen Kritik rückt, aber zugleich selbst den slowenischen Staatspräsidenten im slowenischen Fernsehen wahrnimmt 'in der Haltung eines Kellners, fast Lakaien, (der) den Ausländern sein Land andient', ist unglaubwürdig. Handke bedient sich eben der Methode, die er glaubt, anderen vorwerfen zu können.

Dietrich Jahns Hubertusweg 10 97816 Lohr am Main

Zu billig für die Gerechtigkeit zu haben

Die Absicht, sich gegen eine herrschende Stimmung in Deutschland zu wenden und Serbien 'Gerechtigkeit' widerfahren zu lassen, ist nicht verwerflich. Es ist allerdings erstaunlich, wie billig für Handke diese Gerechtigkeit zu haben ist. Sein Reisebericht enthält so wenig Substanz, wie es wohl nur von einem Autor zu erwarten ist, der mehr an seinen eigenen Empfindungen als an empirisch relevanten Beobachtungen interessiert ist. Statt dessen erhalten die LeserInnen ausführliche Gelegenheit, zu beobachten, wie Handke seine Reise zur unkritischen Bestätigung vorgefertigter Meinungen benutzt. Dafür nur ein Beispiel: Schon ein erster Spaziergang am Abend seiner Ankunft reicht Handke aus, um der Belgrader Bevölkerung eine 'gesittete' Haltung 'aus großer Nachdenklichkeit' und 'übergroßer Bewußtheit' zu attestieren. Ein gewisses Maß an Selbstreflexion hätte ausgereicht, um Handke die Grenzen seiner Urteilskraft aufzuzeigen und ihn davor zu bewahren, seine diffuse Sympathie für ein Volk, das er nicht kennt, mit halbwegs realen Beobachtungen zu verwechseln. Fazit: Handkes Beitrag ist als provozierender Essay über den jugoslawischen Krieg und dessen mediale Wahrnehmung in Europa akzeptabel (womit noch nichts über die Richtigkeit seiner Thesen gesagt ist), als Reisebericht ist er mehr als dürftig. Ein Großschriftsteller ist eben noch kein guter Berichterstatter.

Dietrich Oberwittler Im Fohlenkamp 3 58285 Gevelsberg

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