Peter Buwaldas Roman "Otmars Söhne":Das tragbare Weltall

Mit Rohöl verschmutzte Hände

Alles dreht sich ums Erdöl: Aufnahme während eines Protests in Nigeria gegen Shell nach einer Ölpest im Jahr 2011.

(Foto: George Esiri/dpa)

Der niederländische Schriftsteller Peter Buwalda erzählt von der europäischen Gegenwart mit den Mitteln der Psychoanalyse. Sein Roman "Otmars Söhne" ist ein nervöser, neurotischer, nervtötender Triumph.

Von Felix Stephan

Von dem Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung stammt die Theorie des kollektiven Unbewussten. Die Theorie besagt, dass jedes individuelle Traumbild letzten Endes auf ein Urbild zurückgeht, das den Träumen aller Menschen vorangestellt ist. Von diesen Urbildern gibt es nur eine begrenzte Anzahl, Jung nannte sie "Archetypen". Der Gedanke war, dass sich die Träume eines jeden Patienten, wenn man sie nur lange genug verfolgte, letztlich als Variante, als Umkreisung eines bestimmten Archetypus herausstellen würden, der den Träumen aller Menschen zugrunde liegt und auf den sich letztlich der Mythenschatz der gesamten Menschheit zurückführen ließ.

In Peter Buwaldas Roman "Otmars Söhne" gibt es so ein Urbild auch, jede Handbewegung, jede Geste, jeder Blick steht zu ihm unmittelbar in Verbindung. Dieses Urbild ist das Erdöl, das der niederländische Ölkonzern Shell in der ganzen Welt aus dem Boden holt, am rücksichtslosesten und verlustreichsten aber wohl im nigerianischen Nigerdelta. Und weil Shell der größte Konzern der Niederlande ist, bestimmt dieses Urbild in Buwaldas Roman das Unbewusste der gesamten niederländischen Gesellschaft. Shell sei weniger ein Unternehmen als ein Land im Land, heißt es an einer Stelle, und die Verwüstungen, die es im Nigerdelta anrichtet sind so etwas wie ein wiederkehrender Albtraum. Wenn die Niederländer lieben, philosophieren, trauern, ist ihrem Bewusstsein stets die brennende Hölle des Nigerdeltas vorangestellt.

Die Handlung dieses hochtourigen, hochneurotischen Romans erstreckt sich über den ganzen Globus, es gibt Szenen unter anderem in Bonn, in Lagos, in Sibirien, ständig ist jemand am Flughafen, ständig kämpfen sich die Figuren durch brüllende Hitze oder lähmende Schneestürme. Im Zentrum aber stehen die Niederlande, dort wachsen die beiden Hauptfiguren Ludwig und Isabelle in soliden Verhältnissen auf, Ludwig in einer genialisch-idealistischen Familie, Isabelle in einer bürgerlich-kaufmännischen. Ihre Wege kreuzen sich zweimal: Zum ersten Mal an der Universität, wo sich Ludwig unsterblich in Isabelle verliebt, während sie ihn kaum bemerkt. Und das zweite Mal Jahre später auf einem sibirischen Ölfeld, wo Ludwig sein Glück über diese Begegnung kaum fassen kann, während Isabelle sich an ihn höchstens vage erinnert.

Aus Verlegenheit beginnt die Hauptfigur eine Karriere bei Shell

Auch die beiden Hauptfiguren sind in gewissem Sinne Archetypen: Ludwig ist ein netter, junger, niedergeschlagener Mann, der gern ein bisschen mutiger und eindrucksvoller wäre. Er ist mit zwei hochbegabten Stiefgeschwistern aufgewachsen, die jeweils früh als Wunderkinder der klassischen Musik über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erregten, weshalb er den Rest seines Lebens gegen das quälende Gefühl ankämpft, mittelmäßig und ungenügend zu sein. Aus Verlegenheit beginnt er eine Karriere bei Shell, aber noch bevor diese Karriere richtig anhebt, verzichtet er der Liebe wegen auf die obligatorische Auslandsstation in Aberdeen, die jeder absolvieren muss, der bei Shell etwas werden will. Daraufhin versandet er als gehemmter Neurotiker im Mittelbau des Konzerns und wirft seiner Freundin diese Niederlage stets heimlich vor.

Seinen Vater hat er nie getroffen, seine Mutter spricht von dem Mann nur abschätzig als "Erzeuger". Der gesamte Ludwig-Strang des Roman erzählt von dessen Vatersuche, und dass der erste Satz des Romans lautet: "Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun", gehört zu den selbstreferenziellen Späßen, die sich der Roman im Grunde ununterbrochen erlaubt.

Die zweite Hauptfigur Isabelle wurde in Thailand geboren und als Kleinkind von einer reichen niederländischen Familie adoptiert. Der Familienpatriarch ist als Kinderbuchautor zu Vermögen gekommen, er trägt jede denkbare Auszeichnung und ist im ganzen Land als moralische Instanz unangefochten. Auf der moralischen Autorität und dem Vermögen des Großvaters fußt der Rang und Status der ganzen Familie, und Isabelle wächst in dem Glauben auf, es gut getroffen zu haben.

In der Bibliothek des Großvaters verwandelt sich das Mädchen in einen neuen Menschen

Als Teenager aber findet sie heraus, dass ihre Adoptivfamilie bis in die letzte Faser von Misogynie, Sadismus und Rassismus nur so durchwoben ist und dass die Frauen in ihrer Familie nicht einfach stille Gemüter sind, sondern ihr Leben lang mit kontinuierlichen Entwürdigungen um den Verstand gebracht wurden, bis sie ihr Heil nur noch darin suchen, still am Küchentisch zu sitzen und zu nicken. In der Schlüsselszene steht Isabelle als junge Teenagerin in der Privatbibliothek des Großvaters und entdeckt dessen umfangreiche Sammlung sadomasochistischer Literatur. Das Mädchen blättert sich durch die De-Sade-Ausgaben und studiert minutiös die namenlosen Grausamkeiten, die den Frauen dort angetan werden im Rahmen dessen, was dann kurioserweise immer noch Liebesspiel heißt, nebst der hingerissen handschriftlichen Anmerkungen ihres Großvaters, und verwandelt sich in einen neuen Menschen.

Fortan ist sie eine Art postkolonialer Racheengel biblischen Formats, der die Familie, die ein Abbild der Niederlande selbst ist, heimsuchen wird, der sich leise vornimmt, das ganze Gebilde einzureißen, eine Figur, die man sich in etwa so vorstellen darf wie Uma Thurmans Rolle in Tarantinos "Kill Bill": eine menschgewordenen Waffe, ein Projektil, das in diesem Moment in der Bibliothek ihres Großvaters den Lauf verlässt und am Ende des Romans immer noch nicht ganz eingeschlagen ist. Zwei weitere Teile sollen auf diesen Roman noch folgen, hat der Autor angekündigt, die Kapitel werden runtergezählt: "Otmars Söhne" beginnt mit Kapitel 111 und endet mit Kapitel 75.

Buwaldas psychoanalytischer Erzählansatz findet seinen Ausdruck in den omnipräsenten Körpermetaphern: Die Körper der Figuren sind von ihrem Bewusstsein und ihrer Entscheidungskraft weitgehend autonom, in schöner jungianischer Manier haben sie ihren eigenen Willen, sind selbst Subjekte: "Noch bevor er weiß, dass er etwas spürt, setzt sich die Reflexionsmaschinerie seines Körpers in Gang", heißt es an einer Stelle über Ludwig, und diese vorbewusste Reflexionsmaschinerie ist bei Buwalda handlungstreibend.

Sie ist schlauer als die Figuren, sie ist sensibler kalibriert, sie ist umsichtiger, und sie enthält 1000 Jahre europäischer Geschichte. Es sei ein "Rätsel der Biologie und der chemischen Kommunikation", heißt es einmal, "wie aufkommende Vermutungen, Hirngespinste, Vorahnungen mit Nerven verbunden sind - allein schon die Möglichkeit, allein schon die einfache Annahme setzt ein Schleusensystem aus Zellwänden, Hormonen und Körpersäften in Betrieb."

Der größte Konflikt besteht in dem Roman zwischen den Figuren und ihren Körpern

Wenn man in seiner Literatur den Gedanken voraussetzt, dass der Wille nur eine nachgeordnete Rolle spielt, wird einiges möglich, die Figuren werden zu ausführenden Kräften ihrer Ängste und Neurosen, die ganze Romanwelt ein organisches Pumpen von Säften und Neuronen, Ehrgeiz, Panik und Gier. Beim Schreiben von Romanen müsse man unterscheiden zwischen dem Thema und der Technik, hat Jonathan Franzen einmal gesagt, als er in einem Interview gefragt wurde, was ihn an dem Thema "Familie" so interessiere, dass er einen Roman nach dem anderen darüber schreibe.

Das Thema interessiere ihn gar nicht besonders, antwortete Franzen, es sei nur eine dankbare Technik: Wenn man zwei Romanfiguren habe, müsse man erst aufwendig eine Beziehung zwischen ihnen herstellen, um eine Spannung herzustellen. Wenn es sich aber beispielsweise um Vater und Tochter handele, spare man sich die Arbeit, die Spannung sei sofort da.

Bei Buwalda besteht diese Spannung zwischen den Figuren und ihren Körpern. Wenn ihnen "sonore Projektile ins Hirn schießen", diesem "tragbaren Weltall, in dem Freuden und Ängste ihre elliptischen Bahnen ziehen", entsteht unmittelbar eine Kraft, die die Figuren immer wieder aufs Neue unsagbare Dinge anstellen lässt, über die sie in der Folge selbst staunen. Diese Dinge geschehen dann gewissermaßen unter Zwang, was ein ambivalentes Gefühl der Orientierungslosigkeit auslöst, das die Figuren auf unterschiedliche Weise bekämpfen. Dieses Gefühl, so steht es bei Jung und so erzählt es jetzt auch Buwalda, ist der Ursprung von allem.

Peter Buwaldas Roman "Otmars Söhne": Peter Buwalda: Otmars Söhne. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt, Hamburg 2021. 620 Seiten, 24 Euro.

Peter Buwalda: Otmars Söhne. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt, Hamburg 2021. 620 Seiten, 24 Euro.

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