Peter-André Alts Buch "Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität":Hannas Handorakel

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Krasse Widersprüche: Protest gegen befristete Arbeitsverträge an der Universität Kassel. (Foto: Uwe Zucchi/picture alliance/dpa)

Der oberste Unifunktionär des Landes, Peter-André Alt, hat eine Grundsatzkritik des Universitätssystems vorgelegt. Alle Gegner neoliberaler Hochschulpolitik sollten sie gründlich studieren.

Von Daniel-Pascal Zorn

Bildung, wenn sie nützlich sein soll, ist eine Frage der Organisation. Davon zeigte sich auch der Ausschuss für Fragen der Hochschulreform überzeugt, der im Sommer 1952 auf Anregung des US-amerikanischen Kulturoffiziers J. J. Oppenheimer in der kleinen Schwarzwaldgemeinde Hinterzarten tagte. Gastgeber war Georg Picht, Leiter des dort ansässigen Landerziehungsheims Birklehof und Sohn eines gut vernetzten Referatsleiters für Erwachsenenbildung im preußischen Kulturministerium. Man einigte sich darauf, die Hochschulen nach ihren drängendsten Problemen zu befragen. Ein gutes Jahr später teilte der Deutsche Hochschulverband der Westdeutschen Rektorenkonferenz die Ergebnisse dieser Befragung mit. Als zentrales Problem wurde die fehlende berufliche Perspektive von "Nichtordinierten" genannt, Wissenschaftlern ohne Aussicht auf eine Professur, deren Tätigkeit in Lehre und Forschung aber unverzichtbar war. Wie sollte man mit dieser "akademischen Reservearmee" umgehen, die man brauchte, aus der man aber auch durch "Bestenauslese" die eigene Nachfolge rekrutierte?

Das Problem, das im November 1953 der Westdeutschen Rektorenkonferenz vorgelegt wurde, hält sich bis heute durch. Unter dem Hashtag #IchbinHanna versammelten sich im Sommer 2021 Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um ausufernde Befristungspraxis, fehlende Zukunftsperspektiven und strukturelle Ausbeutung zu beklagen. In einem von Kennziffern, Drittmittelfinanzierung und exzessiver Evaluation geprägten System hat sich ihre Lage massiv verschärft: Sie sollen Lehre und Forschung sichern, Drittmittel einwerben, Verwaltungsaufgaben übernehmen und freiwillige Mehrleistung erbringen, um zu signalisieren, dass ihnen ihre Arbeit wichtig ist - all das auf einer Stelle, die im Schnitt auf drei Jahre befristet wird und deren Fortsetzung jedes Mal aufs Neue infrage steht.

Selten wurde Lesern und Leserinnen ein so detaillierter Einblick in den realen Ablauf des Systems Hochschule gegeben

Die Hochschule heute ist eine ganz andere als diejenige der Fünfzigerjahre. Zwischen Hinterzarten und der Gegenwart liegen nicht nur knapp 70 Jahre, sondern auch etliche Hochschulreformen, in denen die Ordinarienuniversität alten Zuschnitts modernisiert werden sollte. Diese Dauerreform der deutschen Hochschule nimmt auch Peter-André Alt, der derzeitige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz zum Anlass, um in seinem Buch "Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität" eben diese Lage aus seiner Sicht darzustellen. Das Buch hat drei Teile. Im ersten, historischen Teil rekapituliert Alt die Reform der deutschen Hochschule seit Mitte der Sechziger. Der zweite Teil widmet sich einer ausführlichen Analyse des Systems Hochschule, zu der Alt im dritten Teil dann eigene Vorschläge für eine Weiterentwicklung dieses Systems vorlegt. Insbesondere der zweite Teil des Buches profitiert dabei von den teils intimen Einblicken, die Alt "in einem Vierteljahrhundert verantwortlicher Mitgestaltung des Universitätssystems und seiner Einrichtungen erworben hat".

Auch Georg Picht, der Gastgeber der Hinterzartener Tagungen, spielt in Alts Buch eine wichtige Rolle. Denn Picht veröffentlicht ab Januar 1964 eine Artikelserie unter dem Titel "Die deutsche Bildungskatastrophe", mit flammenden Plädoyers für eine Bildungsreform, in der Schule und Hochschule als wichtige Faktoren für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands dargestellt werden. "Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand", so bringt es Picht gleich zu Beginn auf den Punkt. Alt stellt diese Diagnose von 1964 - und sie flankierende wichtige Beiträge von Schelsky 1963 und Dahrendorf 1965 - an den Anfang der Reformbewegung, die erkannt habe, dass "Deutschlands Zukunft ohne eine unverzügliche Bildungsoffensive auf dem Spiel stand". So ganz stimmt das allerdings nicht.

Pichts einflussreicher Text ist vielmehr Teil einer viel weiter ausgreifenden und sich seit Ende der Fünfziger intensivierenden publizistischen Kampagne, die auch eifrige Lobbyarbeit bei der Regierung Erhard miteinschloss. Pichts volkswirtschaftlich orientierte Argumentation, in der Schulen und Hochschulen vor allem als Produktionsmittel für zukünftige Fachkräfte erscheinen, die Deutschland im internationalen Vergleich stärken sollen, wird durch einen sozialliberalen Dreh ergänzt, den Ralf Dahrendorf und Hildegard Hamm-Brücher ins Spiel bringen: Dahrendorf plädiert für Gleichberechtigung, für "Bildung als Bürgerrecht", während Hamm-Brücher in der Zeit eine Artikelreihe unter dem sprechenden Titel "Auf Kosten unserer Kinder?" veröffentlicht. Es ist der höchst wirksame Beginn einer ideologischen Konstellation, die spätere Generationen den linken Achtundsechzigern zuschreiben werden: Ökonomisierung öffentlicher Einrichtungen zugunsten von Gleichberechtigung und der Überwindung von Klassendifferenzen, etwas später: Privatisierung und Selbstbestimmung beziehungsweise Eigenverantwortung.

Alt übernimmt diese beiden liberalen Spins für seine Argumentation und ergänzt sie durch zwei weitere: eine organisationssoziologische Sicht auf die Universität und die Berufung auf die eigenen Erfahrungen als Hochschulfunktionär, die sich in seinen pragmatischen Vorschlägen zur Verbesserung des hochschulischen - um den Wortgebrauch von Alt zu übernehmen - "Systems" niederschlagen. Hier liegt die eigentliche Stärke des in vielen Gremiendebatten und Präsidiumssitzungen gestählten Autors, der von 2010 bis 2018 als Präsident die FU Berlin geleitet hat. Seine Einblicke in das Hochschulsystem sind nicht frei von Vorurteilen und perspektivischen Einordnungen, aber selten wurde den Lesern und Leserinnen ein so detaillierter Einblick in den realen Ablauf des Systems Hochschule zuteil.

Besonders gegen die linke und von basisdemokratischen Idealen bewegte Gremienuniversität teilt Alt gerne aus

Die Detailfreudigkeit von Alts Darstellung wird nur noch übertroffen von seiner Lust an dialektischen Entgegensetzungen. Das Buch wird von einem Schema durchzogen, in dem Alt den immer gleichen Dreischritt vollzieht: Er stellt zwei Extreme gegeneinander und versucht sich in der Vermittlung durch eine dritte Position. So gerät ihm seine historische Darstellung der Reformgeschichte der deutschen Hochschule zwar eher unhistorisch, gewinnt aber an Prägnanz, wenn Alt die konservative Ordinarienuniversität mit ihren so elitären wie persönlichen Seilschaften mit der ihr nachfolgenden linksliberal codierten Gremienuniversität in einen Kontrast setzt, um ihre Auflösung in die neoliberale Universität der Neunziger auch als Fortschrittsgeschichte zu schreiben. Besonders gegen die linke und von basisdemokratischen Idealen bewegte Gremienuniversität teilt Alt ein ums andere Mal aus, gegen faule und dumme Studierende, inkompetente Professoren und unrealistische Erwartungen einer ganzen Generation, die präsidiale Entscheidungen durch Endlosdebatten in Gremien verhindert hat.

Diese polemischen Ausfälle können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Alts Analyse der neoliberalen Universität im Modus der Krise erscheint. Diese Krise äußert sich in einer Reihe von harten Brüchen, zwischen Werbeblöcken für die Segnungen des neoliberalen Systems und furiosen Angriffen auf eben dieses System und seine Risiken und Gefahren, die vor allem die wissenschaftliche Autonomie und die Eigenheiten des Universitätssystems betreffen.

Rhetorisches Ziel dieser harten Dialektik ist natürlich, sie am Ende des Buches durch eigene Überlegungen zu vermitteln - doch genau das gelingt Alt nicht. Sein Vermittlungsvorschlag des dargestellten extremen Widerspruchs zwischen neoliberalem Betriebssystem und hochschulischer Hardware besteht darin, beide über Funktionsbegriffe anzunähern und ansonsten auf Ideen Dahrendorfs und - des vorher wegen seiner Traumtänzerei gescholtenen - Habermas zu verweisen. Einmal mehr soll Ökonomisierung durch "Vielfalt" und "Gleichberechtigung" gerechtfertigt werden.

Peter-André Alt: Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität, C.H. Beck, München 2021. 297 Seiten, 26 Euro. (Foto: N/A)

Doch das tut dem großen Vorzug des Buches keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Alts polemische Attacken gegen Studierende, demokratische Institutionen und Mitspieler im hochschulischen System können nicht davon ablenken, dass der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz etwas ganz Außerordentliches vollbringt: Er informiert seine Leserinnen und Leser über die internen Mechaniken des Systems Hochschule, er führt ihnen idealtypisch vor, auf welche Weise das aktuelle Betriebssystem des "New Public Management" verteidigt wird, und er liefert ihnen Anhaltspunkte, an welchen Stellen sich krasse Widersprüche zwischen formaler Organisation und wissenschaftlichem Anspruch nicht mehr überbrücken lassen. Was für Alt eine Paradoxie ist, muss für diejenigen, die das Wissenschaftssystem kritisieren, keine sein.

Sein Buch ist aus dieser Perspektive ein hervorragendes, gut geschriebenes und umfangreiches Kompendium, das ausführlich über die Schwachpunkte und Funktionsweisen des Hochschulsystems informiert, die idealtypische neoliberale Argumentation repräsentiert und selbst wichtige und etablierte Einwände gegen sie versammelt. Die Gegner der neoliberalen Hochschulagenda sollten es daher gut studieren - und der Polemik ausweichen, damit sie den wichtigsten Gehalt des Buches nicht übersehen: eine Verteidigung des Status quo, die sich ihrer selbst nicht mehr sicher ist.

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