Süddeutsche Zeitung

"Perp Walk" von Strauss-Kahn:Handschellen zieren jeden Verdacht

Obwohl auch in den USA die Unschuldsannahme gilt, ist es gängige Praxis, Verdächtige öffentlich vorzuführen. Besonders dann, wenn sie prominent sind. Die inszenierte Justizperformance hat ein klares Ziel.

Jörg Häntzschel, New York

Auf dem Video, das zeigt, wie Dominique Strauss-Kahn von zwei Polizisten aus dem Untersuchungsgefängnis zu einem wartenden Wagen geführt wird, ist nur ein Satz zu hören: "Let's get the cuffs!", ruft da ein Reporter seinem Kameramann zu: Zeig die Handschellen! "Perp Walk" nennt man im Milieu von Polizei und Gerichtsreportern diesen ritualhaften öffentlichen Gang des Festgenommenen von der Zelle zum Haftrichter. Es ist, natürlich, ein zeitgenössisches Spießrutenlaufen. Doch während das Blitzlichtfeuer keine physischen Wunden hinterlässt, entstehen Bilder, die langfristig tödlich sein können.

Diese Bilder sehen immer gleich aus: Im Mittelpunkt steht der mutmaßliche Täter, mal entsetzt, mal versteinert wie ein Reh im Autoscheinwerfer, aber immer in der unvorteilhaften Pose, die ihm die Handschellen hinter seinem Rücken aufzwingen. Links und rechts halten ihn zwei Polizisten, als könne er ohne deren harten Griff fliehen. Rings um dieses Trio drängen sich die Reporter, die den Festgenommenen fotografieren, als wollten sie aus dem Gesicht des Festgenommenen die Schuld herausmeißeln.

Die Bilder sind uns ebenso vertraut wie klassische Motive der Malerei: die Jungfrau mit Kind, der Vanitas-Totenschädel oder Jesus am Kreuz. Neben dem "mug shot", der streng kodifizierten Aufnahme des Polizeifotografen für die Verbrecherkartei, ist die Aufnahme vom "Perp Walk" das ikonischste Bild, das wir vom Kriminellen haben.

Kein Wunder: In einem einzigen Bild ist die gesamte Geschichte des mutmaßlichen Verbrechens und seine Folgen auf packende Weise enthalten: Die an seinem Äußeren ablesbare Herkunft des Mannes, die fixierten Hände, die Schlimmes getan haben, die Tiefe des Falls und die Schwere der Schuld, die sich in seinem Gesicht abzeichnet, seine Festnahme und ein erster Eindruck der ihn nun erwartenden gerechten Strafe.

Obwohl auch in den USA die Unschuldsannahme gilt, ist der "Perp Walk" gängige Praxis, besonders dann, wenn es sich bei den Verdächtigen um öffentliche Figuren handelt oder wenn das Verbrechen besonders schwerwiegend ist.

Ob die Verdächtigen kooperieren oder nicht, spielt dabei kaum eine Rolle: Scott Sullivan, der betrügerische Manager der Firma WorldCom, und John Rigas, der CEO von Adelphia, wurden öffentlich in Handschellen vorgeführt, obwohl sie sich den Behörden gestellt hatten.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wozu die Justizperformance dient.

Den längsten "Perp Walk" hatte Timothy McVeigh, der Attentäter von Oklahoma City, zu erdulden. Drei Stunden lang wurde er öffentlich ausgestellt, bevor er dem Richter vorgeführt wurde. Für den Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald endete der "Perp Walk" tödlich: Jack Ruby nützte einen der zahlreichen öffentlichen Transporte des Gefangenen, um Oswald zu erschießen.

Dass der "Perp Walk" eine PR-Aktion ist, eine für die Presse inszenierte Justizperformance, bei der alle Aspekte - Schauplatz, Tageszeit, Handschellen ja oder nein - sorgfältig bedacht werden, daraus macht die US-Justiz keinen Hehl.

Im Jahr 2003 entschied befand ein Gericht, dass "Perp Walks" abgesehen von dem Transport von Gefangenen auch einen legitimen symbolischen Wert besitzen. Sie dienten dazu, die Öffentlichkeit über die Arbeitsweise der Justiz aufzuklären und seien der Transparenz im Strafvollzug zuträglich. Dieser Nutzen sei bedeutender als die Privatsphäre der betroffenen Person.

Dass schon der Begriffe "Perp Walk" darauf hindeutet, dass hier schon vor dem Prozess Verurteilung und Bestrafung durch öffentliche Schande stattfindet, wurde bei dem Urteil nicht berücksichtigt: "perp" steht für "perpetrator", also denjenigen, der das Verbrechen tatsächlich ausgeführt hat, nicht den bloßen Verdächtigen.

Zum Teil ist die Praxis durch Amerikas aggressiveres Rechtssystem zu erklären. Es ist ein Land, in dem lebenslänglich oft tatsächlich lebenslänglich bedeutet, in dem an der Grenze aufgegriffene Mexikaner aneinandergekettet im Gerichtssaal auftreten müssen und Bagatellverbrechen beim dritten Mal mit Strafen geahndet werden, die jede bürgerliche Existenz zerstören.

Zum Teil aber auch durch das Jury-System: Je früher die Justiz die öffentliche Meinung beeinflussen kann, desto leichter kommt es später zur Verurteilung.

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SZ vom 18.05.2011/rus
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