Zum Tod von Per Olov Enquist:Der zweifelhafte Wille zum Glauben

Zum Tod von Per Olov Enquist: Immer war er der Mann mit dem ruhigen, nüchternen Blick: Der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist.

Immer war er der Mann mit dem ruhigen, nüchternen Blick: Der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist.

(Foto: AFP)

Die Allgegenwart eines harten Gottes und die grundsätzliche Unsicherheit des Menschen waren die Themen von Per Olov Enquist. Nun ist der große europäische Autor im Alter von 85 Jahren gestorben.

Von Thomas Steinfeld

In den Wäldern Nordschwedens, in der Nähe eines Dorfs namens Hjoggböle, gibt es einen Ort, den die Einheimischen "Russenhügel" nennen. Sieben Russen sollen dort begraben liegen, erschlagen von Bauern, nachdem sie im Finnischen Krieg von 1809 versprengt worden waren. Kreuzottern soll es dort auch geben, sodass niemand dorthin zu gehen wagt, weshalb die Fichten auf der kleinen Anhöhe größer und älter werden als irgendwo anders in der Gegend. Der Erzähler, ein Knabe noch und ohne Namen, betrachtet den Hügel: "Es war eine sehr helle Sommernacht. Es lag ein leichter Nebel über dem Sumpf. Man konnte die Wipfel der Fichten auf dem Russenhügel sehen, doch nicht die mächtigen Zweige in der Mitte, die sich wie Gottes Finger ausstreckten und nicht zitterten. Wie soll man eigentlich erwachsen werden können." Neben ihm sitzt ein Mann, der sein Vater ist und doch nicht sein Vater werden kann, und liest in der Bibel.

Der Roman "Kapitän Nemos Bibliothek" (1991), aus der diese Passage stammt, ist das dunkelste Buch Per Olov Enquists: Es handelt von Säuglingen, die auf der Krankenstation verwechselt werden, von einer ungewollten Schwangerschaft und unheimlichen Todesfällen, von einer wahnsinnigen Mutter und einem Unterseeboot, das eigentlich ein Traum ist und trotzdem begangen werden kann. Und vor allem handelt es von der Landschaft im Norden Schwedens, in der Per Olov Enquist in den Vierzigerjahren aufwuchs, von einsamen Charakteren, die wie ausgeschnitten vor dunklen Seen und tiefen Wäldern stehen und nicht wissen, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen sollen.

Enquists bevorzugte literarische Technik ist die Auflösung der Handlung in eine Folge Tableaus

In diesem Buch sind die Motive konzentriert, die Per Olov Enquist sein ganzes, langes Leben begleiteten, die sich in allen seinen Romanen und Theaterstücken finden und sogar in seinen journalistischen Arbeiten. Als da sind: der europäische Norden im Allgemeinen und das weit entfernt liegende Dorf Hjoggböle im Besonderen (wo Per Olov Enquist im Herbst 1934 geboren wurde), die Allgegenwart eines harten, wenn nicht gar bösen Gottes und die grundsätzliche Unsicherheit der in dieser strengen Welt lebenden Menschen, ob das, was ist, tatsächlich das ist, was es zu sein scheint.

Selbstverständlich ist es der protestantische Gott in seiner protestantischsten Verfassung, der dafür sorgt, dass man nie weiß, woran man ist. Dieser Gott ist streng nicht aus Stärke, sondern weil er um seine eigene Schwäche weiß: Denn wenn der Glaube, um gläubig zu bleiben, die Auseinandersetzung mit großen und kleinen Feinden verweigert, dann ist er selbst bereits bis in sein Innerstes dem Unglauben verfallen. Dieser zweifelhafte Wille zum Glauben, dieses nur scheinbar feste Fundament des Daseins, nimmt in den Werken Per Olov Enquists sehr verschiedene Gestalten an: In den ganz frühen, stark vom Journalismus geprägten Arbeiten ist es zum Beispiel der Sport, wie in der Reportage "Die Kathedrale von München" (1972, über die Olympiade und die palästinensische Geiselnahme), oder es ist die scheinbar staatstragende Moral, wie in den "Legionären" (1966), der Geschichte von der Auslieferung baltischer SS-Soldaten an die Sowjetunion. In den späten, kulturhistorisch inspirierten Romanen ist es die Aufklärung, so im "Besuch des Leibarztes" (1999), Per Olov Enquists international größtem Erfolg, oder es ist die Liebe, wie im "Buch von Blanche und Marie" (2004), oder es ist, wie "Lewis Reise" (2001) der protestantische Fundamentalismus selbst, so wie er sich notwendig in eine unheilige Allianz mit der populären Kultur und der entfalteten Marktwirtschaft begibt.

Per Olov Enquists bevorzugte literarische Technik ist die Auflösung der Handlung in eine Folge von Tableaus, von denen viele nur aus einem Absatz bestehen, manche nur aus einem Wort. Diese Form der Darstellung hat seinen Werken das landläufige Urteil eingetragen, es handle sich um Recherchen, und ihm selbst den Ruf, ein Sucher nach Wahrheit zu sein. Beides aber trifft nicht zu. Denn über die Kategorie "Wahrheit" war Per Olov Enquist immer schon hinaus. "Wahrheit" mag wie ein glückliches Versprechen klingen, aber es ist Teufelszeug, ein unbedingter, aber leerer Imperativ, etwas, das eine Sucht erzeugt, die, wie alle Sucht, unbefriedigt bleiben muss. Deswegen ist "Ein anderes Leben" (2008), die romanhafte Autobiografie eines Alkoholikers, Per Olov Enquists ehrlichstes und vermutlich auch bestes Buch: Denn darin weiß der Süchtige, dass der Stoff, nach dem er mit jeder Faser seines Lebens verlangt, ihn nicht eine Sekunde lang wirklich tragen wird. Aber er hat keinen anderen Stoff. Und so zerfällt ihm das Leben in lauter Stationen, die alle von dem gleichen Willen nach einem spirituellen Aufstieg gezeichnet sind und alle in den Unglauben zurückfallen.

Per Olov Enquist war eine unruhige Gestalt. Er hat Romane geschrieben, Theaterstücke verfasst - einige davon waren sehr erfolgreich, die "Nacht der Tribaden" (1975) zum Beispiel - und Regie geführt (so etwa bei Strindbergs "Fräulein Julie" in Kopenhagen im Jahr 1984). Notorisch war der Wechsel der Wohnorte: Berlin, Los Angeles, Kopenhagen, Paris. Wenn er den Sport offensiv liebte (in seiner Jugend war er Hochspringer auf nationalem Niveau gewesen), dann auch des dauernden Wechsels von Anspannung, Euphorie und Glück oder Enttäuschung wegen. Und immer waren da, fast bis zuletzt, die journalistischen Arbeiten, die Rezensionen, die Nähe zur schwedischen, staatstragenden Sozialdemokratie und die daraus folgenden kulturpolitischen Aufträge.

Immer war Per Olov Enquist in diesen freiwillig übernommenen Pflichten der Mann mit dem ruhigen, nüchternen Blick. Doch zugleich muss da eine große Unruhe gewesen sein, die ihn von einem Engagement ins nächste trieb. Nüchternheit und Unruhe wirkten dabei wie zwei Seiten eines Verhältnisses: eines gewollten Entzugs, der dann bald wieder überging in die Arbeit an einem neuen Roman - mit Ausnahme der fünfzehn Jahre, die "Kapitän Nemos Bibliothek" vorausgingen, der Jahre als halber Taugenichts und Alkoholiker. Und wenn sich Per Olov Enquist immer wieder mit den großen Eigensinnigen der skandinavischen Literaturen beschäftigte, mit August Strindberg und Knut Hamsun, dann geschah das auch, weil er sich in ihren intellektuellen Verhältnissen so gut auskannte, im beständigen Umschlagen von Klarsicht in Wahn und wieder zurück.

Der letzte, fast unverhohlen autobiografische Roman Per Olov Enquists handelte, wie er selbst behauptete, und wie die Kritik gerne wiederholte, von der Liebe, genauer: von der sexuellen Erweckung eines Fünfzehnjährigen aus Hjoggböle durch eine weitaus ältere Dame aus Stockholm, die sich als Sommergast in dem nordschwedischen Weiler aufhält. Eigentlich jedoch geht es im "Buch der Gleichnisse" (2013) nicht um die Liebe als solche: Es geht um die neun Seiten, die aus dem spät gefundenen Notizbuch des Vaters herausgerissen sind, und die vermutlich ein Liebesbekenntnis des Vaters an die Mutter enthielten - eines Bekenntnisses, das um so problematischer gewesen sein musste, als es allen pietistischen Geboten widersprochen haben dürfte. Es sind diese neun Seiten, die das eigentliche Zentrum des Buches ausmachen, und sie bestehen nicht in Liebe, sondern in der Verschriftlichung der Liebe, was etwas ganz anderes ist. Und sie sind nicht mehr da, obwohl sich das Leben durch sie veränderte. Ihnen war, im metaphorischen wie im buchstäblichen Sinne, das Leben dieses Schriftstellers gewidmet. Am Samstagabend starb Per Olov Enquist, einer der großen europäischen Autoren der vergangenen Jahrzehnte, im Alter von 85 Jahren in Vaxholm bei Stockholm.

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