Süddeutsche Zeitung

Pegida-Demonstration in Dresden:Die nützlichen Idioten

Lesezeit: 6 min

Für die regierenden Parteien sind die Anhänger von Pegida eine bequeme Opposition - denn die eigentlichen Fragen werden von ihnen nicht gestellt. Selbst Pegida-Sprecherin Kathrin Oertel spricht nur von einem Schlagersänger.

Von Ingo Schulze

Wenn ich nicht wüsste, dass Pegida "Patriotische Europäer gegen (die) Islamisierung des Abendlandes" bedeuten soll und ich stattdessen wüsste, dass Pegida auf die Vornamen von drei politisch engagierten Freundinnen anspiele (Petra, Gisela, Dagmar), die Montag für Montag eine Demonstration organisierten - ich wäre voller Sympathie und Interesse und würde hingehen. Denn auf die Frage, warum wir in Deutschland nicht viel häufiger auf die Straße gehen, habe ich keine Antwort.

Als ich mich am 12. Januar kurz nach 18 Uhr in warmer Kleidung dem Sammelpunkt nähere, bin ich irritiert. Die Stimmung hat etwas von einem Männertagsausflug im Winter. Ich sehe tatsächlich fast nur Männer, die meisten sind noch älter als ich. Die Jugend, sagt vorwurfsvoll einer der Alten, habe noch nicht kapiert, dass es ja hier um ihre Zukunft gehe. Immer mehr Fahnen werden herangetragen, Deutschland-Fahnen und die Fahnen der Bundesländer.

Auf einem Plakat steht: "Lieber heute aufrecht für Pegida als morgen auf Knien gen Mekka". Ihre Sorgen möchte ich haben, würde ich am liebsten sagen. Als der erste Sprecher zu reden beginnt, setzt schon bald nach den ersten Sätzen ein Sprechchor ein: "Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!"

Sofort wird "Lügenpresse!" skandiert

Mir fiel es schon im Oktober 1989 schwer, in Sprechchöre einzustimmen. Wenn der Redner etwas sagt, was der Chor missbilligt, gibt es "Pfui!"-Rufe, lobt er etwas ("Dresden zeigt, wie's gemacht wird!"), beginnen gleich wieder die "Wir sind das Volk!"-Rufe. Sie machen mir eine Gänsehaut. Ist es die Heiterkeit, die fehlt, die Offenheit, die es 1989 trotz der Angst gab? Als der Wind wieder die Deutschland-Fahnen flattern lässt und aus den Lautsprechern die Wörter Volk und Heimat scheppern, begreife ich mit einem Mal, dass ich die ganze Atmosphäre schon kenne!

Aber woher nur? Ja, so war es schon Ende 1989, und dann vor allem 1990, als die einen immer noch riefen: "Wir sind das Volk!", aber die anderen, die dann die Wahlen gewannen, riefen: "Wir sind ein Volk!". Ich würde gern mit Petra, Gisela und Dagmar reden. Ich würde ihnen gern sagen, dass hier etwas falsch läuft.

Dann höre ich den Forderungen zu, die bisher von der Presse, so sagt der Redner, nicht zur Kenntnis genommen worden seien. Sofort skandieren Tausende: "Lügenpresse! Lügenpresse!" Dann wieder der Redner. Erstens: qualitative Zuwanderung statt quantitativer, zweitens: Integrationspflicht für Ausländer, drittens: keine Einreise mehr für Dschihadisten, viertens: Volksentscheide, fünftens: ein gutes Verhältnis zu Russland, sechstens: mehr Geld für die Polizei.

Herzliche Muslime sollen mitgebracht werden

Ich wundere mich über den Applaus und die Bravo-Rufe. Petra, Gisela, Dagmar, möchte ich sagen, das geht doch so nicht. Qualitative Einwanderung bedeutet, andere Länder bezahlen die Ausbildung unserer Spezialisten. An die Gesetze müssen sich alle halten, aber eine Integrationspflicht verstößt gegen das Grundgesetz. Dschihadisten müssen schon längst mit Verhaftung rechnen. Und Volksentscheide werden nicht erst seit heute gefordert. Und dafür, dass die Berichterstattung in Sachen Russland einseitig war, gibt es immerhin Entschuldigungen . . .

Aber wie kommt es, möchte ich Petra, Gisela und Dagmar fragen, dass diese sechs Punkte Woche für Woche so viele Menschen mobilisieren? Der Redner spricht von der Angst vor "Überfremdung" und zugleich fordert er die Demonstranten auf, am folgenden Montag "integrationswillige und sogar herzliche Muslime", die ja fast jeder kenne, mitzubringen. Aber, Petra, ob sich das die herzlichen Muslime auch trauen?

Und wenn deren Ehefrau und ihre Töchter Kopftücher tragen, was dann, Gisela? Und wenn ich schon mal beim Fragen bin, Dagmar, es kann doch nicht sein, dass es diese sechs Punkte sind, weshalb die Demonstranten hier so enthusiastisch und so empört sind. Einige sagen selbst, diese Forderungen seien keine Basis zum Weitermachen. Aber man weiß wohl selbst nicht recht, was man fordern soll. Neuwahlen? Einer sagt: "Immer denke ich, am nächsten Montag tue ich mir das hier nicht an, aber spätestens am Mittwoch habe ich schon wieder so viel Wut, dass ich es kaum erwarten kann."

Dann spricht "unsere liebe Kathrin", die Pegida-Sprecherin Kathrin Oertel. Ich erwarte, dass sie jetzt deutlich werden wird. Sie wird jetzt das sagen, was ihr Vorredner versäumt hat und weshalb wir alle hier sind: Sie wird davon sprechen, dass mit dem Ausbruch der Finanz- und Bankenkrise im September 2008 offensichtlich wurde, dass das Gemeinwesen die Geisel jener ist, die jahrelang exorbitante Gewinne eingesteckt haben und einstecken.

Gleich wird sie sagen, dass die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft Existenzängste schürt, die Polarisierung der Welt in Arm und Reich jede Minute Menschen sterben lässt. Kathrin wird sagen, dass die sogenannten Freihandelsabkommen der EU mit den USA und Kanada (TTIP und Ceta) wie auch ähnliche Abkommen die Widersprüche zeichenhaft bündeln und eine nicht hinnehmbare Überantwortung von politischer und rechtsstaatlicher Souveränität an Konzerne bedeutet, ein erneutes Einknicken der Politik vor jenen, die den eigenen Profit über alles stellen.

Sie wird jetzt gleich über Snowden sprechen, über die Foltergefängnisse der CIA und über die rasante Verarmung in einem Land wie Griechenland, in dem schon ein Drittel der Bevölkerung keine Krankenversicherung mehr besitzt. Und dann wird sie von der Verantwortung Europas sprechen, von unserer Verantwortung, weil sich kein Konflikt dieser Welt verstehen lässt ohne die Geschichte des Kolonialismus und des Kalten Krieges und des Neokolonialismus.

Sie wird sagen, dass es eine Schande ist, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Es gibt viel zu viel zu sagen. Es ist wichtig, wird sie am Ende rufen, auf die Straße zu gehen und die Politik zu zwingen, im Sinne des Gemeinwesens und nicht des Profitstrebens zu handeln.

Aber nichts von all dem sagt unsere liebe Kathrin, gar nichts. Überhaupt ist es schwer zu wiederholen, was sie sagt. Meinungsfreiheit, unser schönes Dresden, Volk und vor allem ihre Enttäuschung über einen Herrn Kaiser, Roland Kaiser, der Schlagersänger ist gemeint. Der hat Kathrin ins Herz getroffen. Er hat gesagt, dass man statt Angst Neugier haben soll und solche Sachen. Roland Kaiser hat offenbar auf der offiziellen Gegendemo die stärkste Rede gehalten. Und dann sind die Reden schon vorüber.

Gegendemonstranten sind auch keine Hilfe

Und ich denke, jetzt ziehen sie alle los und haben gar keine Forderungen, die wirklich etwas mit ihrem Leben und ihrer Unzufriedenheit zu tun haben. Gibt es denn in der Gedanken- und Gefühlswelt dieser Demonstranten keine Worte dafür? Offenbar fehlen die geeigneten Begriffe: An die Stelle von Gesellschaft tritt Volk, statt von sozialer Ungerechtigkeit zu sprechen, prangert man jene an, die angeblich arbeitsscheu sind, der permanente Kniefall der Politik vor den Forderungen der Wirtschaftslobby wird auf die Fremdbestimmung von Brüssel reduziert.

Für konservative und regierende Parteien sind Pegida-Demonstranten eine bequeme Opposition, denn die eigentlichen Fragen werden nicht gestellt. Pegida sind die nützlichen Idioten. Mit dem Hinweis auf sie können Gesetze verschärft und kann grundsätzliche Opposition diskreditiert werden. Aber die Gegendemonstranten sind auch keine Hilfe, zumindest keine, die unsere Probleme besser formulierte.

Als zwanzig, dreißig junge Leute Polizei und Demonstranten überrumpeln, sich auf die Straße setzen als lebende Blockade und skandieren: "Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda" umstellt die Polizei sie, ein Ausreißer wird ziemlich unsanft eingefangen. Etwas verzögert wälzt sich der Strom der Demonstranten an ihnen vorbei. "Gäht erst ma orbeeten!" (Geht erst mal arbeiten!), rufen sie und "Wir sind die Mehrheit, Ihr seid zu wenig!", was zumindest hier stimmt.

Die Alternative wird übersehen

Es gibt Gruppen unter den Demonstranten, denen möchte man tatsächlich zurufen, was die Blockierer rufen, die zum Glück von der Polizei geschützt werden. Trotzdem greifen die Vorwürfe der Gegendemonstranten zu kurz. Manche halten den Blockierern Plakate hin, die diese auch selbst gemacht haben könnten: "Keine Waffenexporte! Keine Flüchtlinge", "Volksabstimmung über NATO und EU" - Und plötzlich entsteht in mir ein Verdacht: Wenn sich beide Seiten nicht im feindlichen Gegeneinander erschöpften, sondern wechselseitig ihr Unbehagen am Status quo artikulierten - wie groß wäre die Zahl der Gemeinsamkeiten? Ich vermute, überraschend hoch. Die Empörung à la Grönemeyer ist wohlfeil. Dann schon lieber Roland Kaiser, der wirkt wenigstens, obwohl ich nicht die Hoffnung habe, Pegida würde ihren Namen bald als Petra, Gisela und Dagmar deuten.

Diese drei Damen traf ich dann allerdings tatsächlich noch, leider nicht in Dresden, sondern sechs Tage später am Potsdamer Platz in Berlin. Mit ihnen waren fünfzigtausend Demonstranten gekommen, doppelt so viele wie in Dresden. Und jetzt kam all das zur Sprache, was ich in Dresden vermisst hatte - und noch einiges mehr. "Lieber gegen TTIP demonstrieren, als mit Pegida flanieren!" Und während sich der Demonstrationszug in Richtung Kanzleramt in Bewegung setzte, dachte ich: Das müssten sie sehen, die Pegida-Dresdner, ihre Befürworter und ihre Gegendemonstranten.

Aber von diesen Demonstranten hörte und las man erstaunlich wenig. Alle Journalisten, mit denen ich in den letzten Tagen sprach, wussten kaum, was ich meinte, wenn ich die fünfzigtausend (oder mehr) Demonstranten erwähnte, die ohne nennenswertes Polizeiaufgebot gegen die Politik der Bundesregierung auf die Straße gegangen waren. Hier wurde die Alternative sichtbar. Wir alle hätten nur hinhören und hinsehen müssen. Ja, müssen. Dass dies nicht geschah, darüber wundere ich mich - auch wenn mich Petra, Gisela und Dagmar dafür vielleicht belächeln.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2015
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