Afghanistankrieg-Film "Bratstwo":"Wir wollen Sieger sein"

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Pawel Lungin OH (Foto: OH)

Regisseur Pawel Lungin über seinen in Russland angefeindeten Afghanistan-Film "Bratstwo" und die schon damals virulenten Großmachtträume seiner Landsleute.

Von Silke Bigalke

Pawel Lungin öffnet die Tür, seine Wohnung liegt gleich dort, wo sich im Moskauer Zentrum zwei Hauptverkehrsstraßen treffen. Das Wohnzimmer ist fast ein Salon, die Mitte nimmt ein mächtiger Schreibtisch ein, vom Wanddurchbruch dahinter kann man eine Leinwand herablassen.

Der 70-jährige Regisseur setzt sich in einen Sessel und zündet sich den ersten von vielen Zigarillos an. Er kommt gerade vom Filmfestival in Schanghai, wo das Drehbuch für seinen Film "Bratstwo", Bruderschaft, einen Preis gewonnen hat. Lungin erzählt darin vom Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan vor 30 Jahren. Und weil er die Soldaten darin nicht alle als Helden darstellt, sondern auch als Menschen im Krieg, die trinken, sich prügeln und windige Geschäfte machen, haben sich einige Veteranen lautstark beschwert.

SZ: "Bruderschaft" ist Ihr erster Kriegsfilm. War das eine schwierige Entscheidung?

Pawel Lungin: In Russland gibt es viele Themen, über die zu sprechen nicht angebracht ist. Das sind Themen, die das Volk vor sich selbst versteckt. Sie leben im Innern weiter und zerfressen die Seele. Wir haben zum Beispiel weder Filme über den Afghanistan- noch über den Tschetschenien-Krieg gemacht. Wir haben keine guten, tiefsinnigen Filme über Gulag, die Lager, gedreht. Es scheint mir, das wird zur psychischen Krankheit. Als ob der Kranke nicht zum Arzt gehen will. Deshalb äußere ich mich.

Ihr Film als Therapie?

Das wäre zu hoch gegriffen. Aber in Zeiten einer aktiven Propaganda für Militarismus, wie sie bei uns stattfindet, muss doch jemand sagen, dass Krieg schlecht ist, dass dort Menschen ums Leben kommen, dass dort Schmerz ist. Jeder ehrliche Film über den Krieg ist ein Antikriegsfilm.

Der Film basiert auf den Erinnerungen von Nikolaj Kowaljow, der in Afghanistan gedient und später den russischen Inlandsgeheimdienst geleitet hat.

Ich habe mich wegen Kowaljow dafür interessiert, er war mir sympathisch. Danach war ich von diesem Thema hingerissen. Ich bin weiter gegangen, als Kowaljow wollte. Es ist sehr interessant, dass sich die Gemeinschaft der Afghanistan-Veteranen gespalten hat. Die einen haben den Film gehasst und wollten ihn verbieten. Die anderen sagten, dass er die Wahrheit zeigt. Auch unsere Gesellschaft ist sehr gespalten in zwei Wahrnehmungen des Lebens, der Welt. Es gibt Menschen, die in der neuen Zeit angekommen sind und begreifen, dass die Sowjetunion nicht mehr besteht. Und es gibt jene, die in ihrem Innern in der alten Zeit geblieben sind. Das können aber auch junge Leute sein. Die alte Zeit spiegelte den ewigen Zustand Russlands wider - das Fehlen von Freiheit, die Zensur, das Gefühl, dass die Wahrheit über Russland unser wichtigstes Militärgeheimnis ist.

Und die Wahrheit über Krieg?

Krieg heißt immer der Sieg. Und es ist egal, wie viel man für den Sieg gezahlt hat.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Patriotismus und Kriegspropaganda in den letzten Jahren zugenommen haben?

Schwer zu sagen. Es scheint mir, es kommt von oben und von unten. Das Fehlen von Freiheit, Geld und anderen Dingen wird in Russland noch immer dadurch entschädigt, dass man zu einer großen Macht gehört. Wichtig ist, dass die ganze Welt Angst vor uns hat, auch vor mir, einem kleinen Mann. Und die Menschen, die sich erniedrigt fühlen, die es nicht geschafft haben, reich zu werden, einen Platz in diesem Leben zu finden, möchten jetzt wenigstens ein Teil jener Kraft sein, die den Rest der Welt erschreckt. Das steigert ihre Selbstachtung und gibt ihrem Leben Sinn. Sie werden das verstehen, weil unter Hitler in Deutschland etwas Ähnliches passiert ist. Dass wir keine Geschichte haben, hindert uns Russen daran, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen. Deshalb wiederholen wir sehr oft dieselben Fehler.

Sie haben keine Geschichte? Wie meinen Sie das?

Die Geschichte seit der Zeit von Iwan dem Schrecklichen wird immer wieder umgeschrieben. Das war schon im 18. und im 19. Jahrhundert so. Und zur Sowjetzeit wurden aus der Großen Sowjetischen Enzyklopädie Blätter rausgerissen, andere eingeklebt. Zur Gorbatschow-Zeit wurde offiziell anerkannt, dass der Afghanistankrieg ein Fehler war. Jetzt versucht man, ihn als einen Sieg darzustellen.

Welche Lehre sollten die Russen aus der Geschichte ziehen?

Was ist wichtiger, der Mensch oder der Staat? Das ist eine ewige Frage. Das Leben, in dem der Staat wichtiger ist, hat auch seine Vorteile. Man muss keine Entscheidungen treffen, man muss keine Verantwortung tragen. Das Leben ähnelt einer Rolltreppe in der Metro, der Mensch wird geboren und weitertransportiert. Darin sehe ich das russische Hauptproblem. Das hindert aber die Menschen aber nicht, den Staat zu berauben, den sie so lieben.

Es gab viel Kritik dafür, dass sich sowjetische Soldaten in Ihrem Film nicht immer an die Regeln halten.

Es ist sehr scheinheilig zu sagen, dass man damals keinen Alkohol getrunken und keinen Schwarzhandel betrieben habe. Alle wissen doch, dass es so war. Aus Afghanistan sind zum ersten Mal westliche Waren nach Russland gekommen. Obwohl Afghanistan arm war, gab es dort japanische Fernseher, Rundfunkgeräte, Kleidung und Jeans. Das haben die Soldaten dann mitgebracht.

Wie verbinden Sie den Rückzug aus Afghanistan mit der heutigen Zeit?

Erstens, wir haben heute einen Krieg in Syrien. Und es ist einfach interessant, sich bewusst zu machen, dass der Krieg in Afghanistan das Ende der Sowjetunion war. Es stellte sich heraus, dass der Sozialismus geistig nicht mehr siegen konnte. Deshalb wurde der Krieg gestoppt.

Haben Sie die scharfe Kritik erwartet?

Es gibt eine interessante neue Erscheinung, die Zensur kommt von unten. Wir waren es gewohnt, dass gewisse Anführer sagten: Das darf nicht erzählt werden, das ist verboten, das muss rausgeschnitten werden. Und jetzt schreiben durchschnittliche Menschen Briefe, empören sich, bilden Gruppen und fordern, dieses Buch oder jenen Film zu verbieten, die Verfasser zu bestrafen. Diese Erscheinung ist neu. Den Behörden ist die Zensur völlig egal.

Was stört die Leute so?

Es ist dasselbe Gefühl: Wir wollen Sieger sein, aber alle verleumden uns, alle wünschen uns etwas Böses. Das ist ein Paradox unserer Wahrnehmung, das man nur durch die Kultur überwinden kann. Die Reformer der Neunzigerjahre dachten, dass der materielle Wohlstand kommt und das Denken der Menschen verändern wird. Aber es stellte sich heraus, dass der Wohlstand kam und das alte Denken blieb. Als die Bolschewiken 1917 an die Macht kamen, haben sie alle Kulturkräfte, die besten Schriftsteller und Künstler, zur Erziehung eines neuen Menschen herangezogen. Nach dem Ende der Sowjetunion hat sich damit niemand beschäftigt.

Wen betrachten Sie als Ihre Mitstreiter?

Ich bin schon alt und versuche, das zu zeigen, was mich bewegt. Mein nächstes großes Projekt ist die Serie "Steile Route" nach dem Roman von Jewgenija Ginsburg, der Mutter des Schriftsteller Wassilij Akssjonow, die 18 Jahre lang im Lager gelebt hat. Auch mein Regisseurskollege Andrej Swjaginzew behandelt Themen, die mich bewegen. Ich weiß, er will jetzt einen Film über den Zweiten Weltkrieg drehen, um die Widersprüche dieses Krieges zeigen.

Wie ist der Zustand des russischen Films?

Besser als früher. Ein Filmfonds wurde gegründet, es gibt eine Industrie. Wenn es eine Industrie gibt, erscheinen immer auch die Künstler, die versuchen, die Wahrheit zu sagen. Früher suchte man verrückte Millionäre in Sibirien, versprach ihnen, dass sie zum Filmfestival nach Cannes eingeladen würden, und nahm ihr Geld. Heute haben zumindest die Leute, die ich für begabt halte, etwas zu tun. Aber noch kommen nur wenige Zuschauer. Es wird dauern.

Haben Sie die HBO-Serie "Chernobyl" gesehen?

Noch nicht. Das mache ich unbedingt. Alle loben sie sehr.

Warum hat eine amerikanische Serie großen Erfolg in Russland, während russische Filme um Zuschauer kämpfen müssen?

Vielleicht liegt es am Erstaunen darüber, dass die Amerikaner etwas gedreht haben, was dem russischen Leben sehr ähnlich ist. Man dachte, dass niemand außer den Russen selbst Filme über Russland machen kann. Und jetzt stellt sich heraus - es ist möglich.

© SZ vom 18.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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