Paul Simon:Der kleine Boxer

Paul Simon war der Liederdichter des Duos Simon & Garfunkel. Bei der Gelegenheit hat er einige der besten Pop-Songs aller Zeiten geschrieben. Jetzt hat er mit 65 eine neue CD gemacht. Eine Begegnung in London.

Willi Winkler

Eine Tonspur bräuchte dieses Stück, Musik. Müsste mit einer akustischen Gitarre losgehen, plack-a-di-plack-plack, dann aus dem Studiohallraum diese hohe und gleichwohl volle Stimme, wie sie emporsteigt zum Lobpreis Gottes (hätte es früher geheißen), um ganz irdisch von dem Boxer zu erzählen, der von jedem Kampf die Spuren im Gesicht trägt.

Paul Simons; AP

Wishing I was gone, goin' home - Paul Simon singt immer noch.

(Foto: Foto: AP)

Dann kommt Laila-lai, laila-lai, lailalalalalai und der Boxer, dem das Leben immer nur in die Fresse geschlagen hat, bis er nicht mehr konnte, bis er sagte: "Ich geb auf, ich geb auf, lasst mich doch."

So dreckig ging's ihm manchmal, singt die Chorknabenstimme entschuldigend, dass er Zuflucht suchte und Schutz fand nur bei den Huren auf der Siebten Avenue.

Laila-lai, singt die Stimme vogelweidnerisch, und "Bumm" macht das Schlagzeug, und dann träufelt der Sänger das süße Gift Heimweh: Wishing I was gone, goin' home. Doch ungestillt bleibt seine Sehnsucht, dass er einmal wieder nach Hause käme, ein Kämpfer, wenn auch geschlagen.

Und wenn es hier eine Tonspur gäbe, wären auch die Klingeltöne zu hören, aber im Claridge's sind sogar die Klingeltöne dezent, obwohl nicht weniger als sonst in der Geschäftsstadt London telefoniert wird.

Die Königin grüßt schwarzweiß von der Wand, gegenüber ihr Vorvorgänger, der so unglücklich verliebte Herzog von Windsor (ohne seine Wallis), und für die Kundschaft, die ohne Schutz und Schild einer jahrtausendalten Monarchie aufwachsen musste, ist da noch die beinah royale Jacqueline Bouvier-Kennedy-Onassis, auch sie beizeiten gern gesehen in diesem goldbetressten Ambiente, wo der Fahrstuhl-Portier im dritten Stock geduldig aushält, weil das ehebrecherische Liebespaar beim Abschied Mühe hat, vom beischläferischen wieder in den vertrauten Ton von Terminen und Lieferfristen zu wechseln.

In der Lobby sitzen die handelsüblichen russischen Milliardäre, die mit tiefer Stimme übers Handy die neuesten Gazprom-Nachrichten austauschen, spassiba, während ihre Frauen und Töchter mit schweren eckigen Tüten dazu kommen, auf denen in Blockbuchstaben bedeutende Namen stehen. Kaum sind die Tütenträgerinnen erschöpft in den Sessel neben die ständig weiter telefonierenden Männer gesunken, müssen sie ihre Freundinnen anrufen, die noch draußen in der Wildnis von Mayfair herumirren mit ihren vielen Tüten mit Blockbuchstaben darauf. Dawai, dawai.

Endlich im Einklang mit der Welt

Und die Amerikaner. Es muss wohl Sommer werden, denn die Amerikaner reisen wieder nach Europa. Juliette Lewis spielt im Londoner Westend in "Fool for Love" von Sam Shepard, Hugh Hefner beginnt hier in Gesellschaft der blondesten Playmates eine Silikon-Tournee zur Feier seines 80. Geburtstags, und auch die Bischöfe sind aus Amerika herübergekommen, um wieder einmal darüber zu streiten, ob es in der Kirche Homosexualität überhaupt gibt oder sie die Sünder nicht doch besser gleich der ewigen Verdammnis überantworten sollen.

Unterm flanellenen Sakko blinkt die Amtskette, der steife Kragen nur verrät den Gottesmann. Die angeheiratete Britin Madonna gäbe sich nie mit soviel Dezenz zufrieden.

Paul Simon ist ebenfalls nach London gekommen; er hat eine neue Platte, die Erste seit sechs Jahren. Sie heißt "Surprise", damit die Kritiker auch brav schreiben, dass Paul Simons neue CD eine Überraschung ist nach all diesen Jahren. Tatsächlich klingt sie überraschend friedlich, wie im endlich erlangten Einklang mit der Welt, eine Wanderung, wie es in einem der von Brian Eno produzierten Songs heißt, "am Flussufer meiner Phantasie entlang".

Ein bisschen jünger als Stoiber

Paul Simon trägt eine rote Baseball-Mütze, ist unglaublich klein und schaut einen von sehr weit unten herauf wie ein Schulbub an: Ja, ich bin klein, aber mein Herz ist rein. Er nimmt die Mütze ab und schaut einen schon wieder mit diesem traurigen Blick aus großen traurigen Augen an, weil sich die paar schwarzgrauen Strähnen nicht mehr über den nackten Schädel kämmen lassen.

Im Herbst, ein paar Wochen nach Edmund Stoiber, wird er 65, aber schaut doch wie ein Kind, ängstlich, überrascht, dass die Welt so ist, wie sie ist, und dass er diesen Erfolg hatte, der Aufstieg vom Kinderstar zur Hälfte des Duos Simon & Garfunkel, das im Oktober 1981 nach einem Jahrzehnt für ein Konzert wieder zusammenkam und im New Yorker Central Park mehr Menschen anzog als das Festival in Woodstock.

Simon & Garfunkel ist sein Fluch, und er spricht lieber selber davon, bevor er danach gefragt wird, allerdings wie von einer Firma, einer wesensfremden, sternenfernen Entität. "Simonandgarfunkel", das ist er nicht, das war er nie. Ist er heute glücklicher als in den Sechzigern? Die neuen Lieder scheinen es verkünden zu wollen. Paul Simon braucht Zeit für die Antwort; in den Sechzigern war so viel los.

Der kleine Boxer

Als es anfing, 1964, war er hier in England, spielte in Clubs und behandelte britische Folk-Themen. Er sang über Scarborough und diverse landläufige Kräuter, später über die Männer auf Parkbänken, und spielte, Kunststück, wenn man 23 ist und anfallsweise melancholisch, den einsamen alten Mann. Ein Felsen, eine Insel sei er, schrieb er, sang er, denn wer allein ist, der fühlt keinen Schmerz.

Mitten in dieser Kunstpause erreichte sie ihr Manager und befahl ihnen, sofort zurück nach New York zu kommen. Sie hatten einen Plattenvertrag, sie hatten eine Platte gemacht, aber sie war durchgefallen oder wäre es beinah, wenn nicht der Produzent hinterrücks aus dem versponnenen "Sounds of Silence" ein rockiges Stück gefertigt hätte, mit dem Marschtempo in die Hitparade.

Auf einem zugigen Bahnhof in Mittelengland schrieb Simon "Homeward Bound", das Lied, das alle Menschen guten Willens oder jedenfalls über fünfzig bei den ersten Tönen sogleich wiedererkennen: Home where my thought's escaping, / Home where my music's playing,/ Home where my love lies waiting / Silently for me. Und noch mal, denn als geborener Musiker kostet Paul Simon alles aus: Silently for me. Es ist Paul Simons Lied für Amerika, Art Garfunkel harmonisiert seine Girlanden drumherum, dann wieder Simons harter Anschlag auf der Gitarre.

"Hey Schoolgirl"

"Simonandgarfunkel haben mich reich gemacht, jedenfalls verglichen mit dem, was mein Vater verdient hat", gibt er immerhin zu. Sein Vater war Musiker gewesen, Musik war selbstverständlich zu Hause, in New Jersey erst und auch in Queens, aber doch kein Beruf. Seit er vierzehn war, wollte Paul Simon keinen anderen. "Meine erste Musik war Doo-Wop", die Musik der Schwarzen, auch die der Latinos in den Fünfzigern, aber dann kamen schon die Everly Brothers, der Rock'n'Roll, für den sich die Schulfreunde Paul Simon und Arthur Garfunkel als "Tom & Jerry" verkleideten und fröhlich "Hey Schoolgirl" sangen.

"Ich bin kein Performer", sagt er dennoch, "ich bin ein Schriftsteller, der Platten macht." Einige der schönsten Songs in den ekstatischen Sechzigern sind von ihm, das bibelnahe Großstadtgedicht "The Sounds of Silence" ebenso wie der herrlich frenetische Blödsinn über die ungetreue Cecilia, die, kaum dass man einen Moment rausgeht, bereits mit dem nächsten im Bett liegt. Herzzerreißend!

Dazwischen weht die Paranoia, die Angst, dass sie einen kriegen, dass das System sich doch als stärker erweist. Als es mit den Beatles 1969/70 zu Ende ging, und das Zusammenspiel von Lennon & McCartney erloschen war, gab es noch ein paar Monate lang den wie englischen Zwiegesang von Simon & Garfunkel, gab es das Album "Bridge Over Troubled Water", nach den Platten der Beatles und vor Fleetwood Macs "Rumors" in der kurzen Phase des Wohlklangs der Popmusik das meistverkaufte Album.

(Jetzt müsste die Orgel von der Tonspur schwellen und Art Garfunkels Countertenor schraubte sich höher und höher, bis die Brücke nicht bloß das aufgewühlte Wasser überquert, sondern bis an die Himmelstür führt.)

Aber wie das so geht mit Liebespaaren: Miteinander aushalten konnten sie es so wenig wie die Bundesbrüder aus Liverpool. Garfunkel versuchte es beim Film, Simon solo, als "rhyming Simon". Dann heiratete er Carrie Fisher, die Prinzessin Leia aus dem ersten "Star Wars"-Film und wäre bald in ihrem Drogen- und Neurosen-Strudel versunken. In Woody Allens "Stadtneurotiker" hat er einen winzigen Auftritt, als wär's ein Überlebenszeichen.

Der kleine Boxer

Simon erweiterte seinen musikalischen Horizont, lernte monatsweise neue Stile, reiste wie heimatlos nach Los Angeles, nach New Orleans, nach Jamaika, nach Südafrika, saugte überall Musik auf und feierte mit "Graceland" ein unglaubliches Comeback als wiedergeborener Welt-Musiker.

"Ich möchte mich nicht wiederholen", sagt er. Vor zwei Jahren war er mit seinem gehassten Erzfreund auf Weltstadientournee, und im Begleitprogramm führten sie die Everly Brothers mit, fünfzig Jahre gemeinsamer Geschichte und natürlich jeweils volles Haus. Die Darbietung zelebrierte große Kunst: Simon und Garfunkel sahen einen ganzen Abend aneinander vorbei und sangen doch in perfekter Harmonie.

Simonandgarfunkel bleibt ihm, das geht nicht weg, aber es ist nicht mehr seine Musik. Seine Musik schafft es nicht in die Hitparaden, und für MTV ist er sowieso zu alt. Er kann sich Besseres leisten, sogar Pausen.

Als New Yorker stand er nach dem 11. September unter Schock. "Jeder war zornig nach dem 11. September, das hat die Nation vereint, aber wie kann man dieses Gefühl mitteilen - nicht bloß den Zorn, sondern dass sich die Welt verändert hat?" Er versuchte, einen Ton zu finden, eine Stimme, in der er seinem Zorn Ausdruck geben könnte. Sein eigener Tenor kommt beim Gespräch so hell und klar, als wenn er sänge. Melancholie ist dabei, aber zum Zorn scheint sie nicht fähig.

Es gab noch einen weiteren Grund für die sechsjährige Pause: Simon erzählt von einer Operation am Handwurzelknochen, nach der er das Gitarrespielen wieder völlig neu erlernen musste. Auf der neuen Platte spielt er sie mit Fleiß auf jedem einzelnen Stück, Triumph, er kann es wieder.

Sein Assistent kommt mit einer weißen Plastiktüte herein, aus der er vorsichtig zwei kaum mehr als fingerhutgroße Starbucks-Kaffeetässchen hebt, schulbubenhaft ins Hotel und an dem erlesenen Kaffee, den sie unten in der Lobby servieren, vorbei geschmuggelt, damit es seinem Chef schmeckt wie daheim. Paul Simon ist in Europa, und in Europa fragen sie einen immer nach der amerikanischen Politik und am liebsten, was er von George Bush hält.

Kann das sein?

Pflichtschuldig hebt er zu einer Grundsatzerklärung an: "Ich bin alles andere als ein Anhänger der Bush-Regierung, aber vor allem bin ich gegen jede Form von Politik. Das ist nicht mein Geschäft." Kann das sein? Ist er nicht 1972 tapfer in den Wahlkampf gegen Nixon gezogen, hat für den Sozialdemokraten George McGovern geworben, einen für amerikanische Verhältnisse blutroten Kommunisten? Und was ist mit "Silent Night", seiner Agitprop-Version der Weihnachtsschnulze "Stille Nacht"?

Ja, er hat politische Songs gemacht, das gibt er auch zu, aber "Wartime Prayers" ist das äußerste, was er zu geben bereit ist, die bewusststeinsströmende Meditation auf "Surprise". Die Zeiten sind hart, sagt, singt er dort und buddhistelt weiter: "Bevor es mit mir zu Ende geht, will ich mein Herz von aller Missgunst befreien, meine Seele reinigen vom Zorn."

Na ja. Neil Youngs oder Patti Smiths Empörung ist ihm fremd. "Ich will nicht polarisieren, das überlasse ich anderen." Wem? "Es gibt genug Leute, die ein Geschäft aus dem Antagonisieren der Menschen gemacht haben, wo es doch auf das ankäme, was uns verbindet und nicht auf das, was uns trennt."

Musik verbindet. Wo stehst du? lautete die klassische Frage in den Sechzigern. Paul Simon steht eindeutig in der Mitte. "In einem polarisierten Land will ich mich keiner Seite anschließen, sondern alles näher in die Mitte rücken. Ich wünsche mir einen Dialog, ein Gespräch. Wenn uns auch viel trennt, so haben wir doch noch viel mehr, was uns verbindet." Für einen Popmusiker klingt das schon viel zu vernünftig.

Draußen hängen schwer die Regenwolken über den grüngrauen Dächern Londons, und von hier oben sieht es nicht viel anders aus als in Manhattan. Paul Simon, soviel ist sicher, ist nicht zu helfen, er ist im Einklang mit sich, er kennt keine Parteien mehr, er kennt nur mehr das Glück, seine Musik also und seine Familie. Glück hat er auch gehabt, mit seiner Frau, mit seinen Kindern.

In London zerreißen sich grad alle das Maul über den unglücklichen Paul McCartney, den Heather Mills so lange nötigte, sich die grauen Haare wegzufärben und was Flottes anzuziehen und mehr auf Partys und andere Wohltätigkeitsveranstaltungen zu gehen, bis es ihm zu viel wurde und er die Tussi zurück zu ihren Landminen und anderen guten Werken schickte. Eine junge Frau ist nicht billig; die Scheidung wird den armen McCartney sehr teuer zu stehen kommen.

Bühne ist kaum größer als in den Sechzigern

Paul Simon hat mit seiner jungen Frau Edie Brickell nicht bloß Glück gehabt, er ist auch glücklich und vielleicht zum ersten Mal wirklich daheim. Die Frage, die wieder und wieder kommt auf "Surprise" - Wer einen denn noch liebe, wenn man nach nichts mehr aussieht -, stellt sich für ihn nicht: seine drei Kinder lieben ihn bestimmt, auch wenn er mit 64 im Großvateralter ist.

In einem kleinen Theater im ehemaligen Literatenviertel Bloomsbury gibt Paul Simon am nächsten Abend ein Konzert für fünfhundert glückliche Hörer, die ihre Eintrittskarte bei der BBC gewonnen haben. Die Bühne ist kaum größer als in den Sechzigern, als er hier mit Art Garfunkel auftrat, aber er hat sich sieben Musiker mitgebracht, die ihn unterstützen. Beifall prasselt los, als er erscheint, und wieder steht er ganz klein zwischen seinen Gitarristen. Er spielt die neuen und ein paar ältere Songs, spielt "Slip Slidin' Away" und "Cecilia" und fragt wieder Who's gonna love you when your looks are gone?

Als Simon die ersten Akkorde des nächsten Songs zupft, ruft jemand "The Boxer!" nach vorn, und der Sänger gibt zurück: "Du hast ja keine Ahnung!", um dann wirklich "The Boxer" zu singen mit allem Laila-lai und der akustischen Gitarre, an diesem Abend verstärkt um ein Akkordeon, und auf der Tonspur, die hier leider fehlen musste, wäre jetzt das zu hören:

Now the years are rollin' by me, they are rockin' evenly/And I'm older than I once was, younger than I'll be, that's not unusual/Though it isn't strange, after changes upon changes/We are more or less the same, after changes we are more or less the same.

Das Publikum jubelt und ist wieder so jung, wie es Paul Simon war, als er vor unendlich vielen Jahren "The Boxer" schrieb, more or less the same. Seine Geschichte mag die gleiche sein, sie ist aber nicht zu Ende, sie geht immer weiter.

And I'm laying out my winter clothes, wishing I was gone, goin' home/Where the New York City winters aren't bleedin' me, leadin' me to goin' home.

Und Paul Simon, der Gast aus Amerika, ist in London wieder daheim.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: