Paul McCartney:Hallo Welt, mich gibt's auch allein

Paul McCartney tritt in Berlin auf

Paul McCartney veröffentlicht seit 1970 Platten ohne die Beatles.

(Foto: Sophia Kembowski/ dpa)

Die neue Compilation "Pure" von Paul McCartney ist eine freie Auswahl aus klassischen Paul-Hits, die immer wieder die Geschmacksunsicherheit des Ex-Beatles deutlich macht.

Von Max Fellmann

Man muss das mal in Jahren gegeneinanderstellen: Die Beatles haben von 1963 bis 1970 Platten veröffentlicht. Acht Jahre. Paul McCartney veröffentlicht seit 1970 Platten ohne die Beatles. Also, das laufende mitgezählt, 47 Jahre. In diesen fast fünf Jahrzehnten hat er wenig geschaffen, was es mit den wenigen Jahren davor aufnehmen könnte.

Und nein - das so zu sagen, ist weder gemein noch hämisch, es beschreibt nur eine Tatsache, die Paul McCartney bewusst ist. Im Grunde ist seine Karriere nach den Beatles ein großer Versuch zu sagen: Hallo, ihr Menschen da draußen, nehmt bitte zur Kenntnis, mich gibt es auch allein, ich habe auch ohne diesen John Lennon ein paar Lieder geschrieben. Und die Welt nickt freundlich, kauft seine Platten, beschert ihm ausverkaufte Stadionkonzerte - und schaltet erst dann von höflich auf frenetisch, wenn er endlich Beatles-Stücke singt.

McCartney lässt die neue Compilation "Pure" auf seiner Homepage mit solchen Sätzen bewerben: "Paul McCartney und seine Musik muss man nicht vorstellen. Zusammen mit drei Freunden hat er die kulturelle Landschaft für immer verändert. Und auch seine Leistungen seitdem, als Mitglied der Wings und solo, bilden ein umwerfendes Œuvre, das bestehen kann neben diesen sensationellen Jahren mit den Beatles." Man versteht, was gemeint ist - und hört doch nur: Beatles - Beatles - Beatles - auch mal was solo - Beatles - Beatles.

Im kommenden Jahr wird Paul McCartney 75. Kurzes Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, es hätte keinen John Lennon gegeben, keine Beatles, er wäre einfach 1970 mit seinem Debütalbum "McCartney" an die Öffentlichkeit getreten und hätte dann Platte für Platte so weitergemacht. Wäre er einer von den ganz Großen geworden? Erste Liga? Oder doch nur einer unter den vielen inzwischen alten Typen aus den Siebzigern, einer mit ein paar soliden Hits und einem Bond-Song?

Ewige Streitfälle wie "Hope of Deliverance"

Wer "Pure" hört, kriegt einen ungefähren Eindruck davon. Mit der Zusammenstellung hat McCartney sich selbst ein kleines Geschenk gemacht: einfach mal nur er. Nicht direkt ein Best-of, auch nicht nur die Greatest Hits. Eher eine freie Auswahl aus klassischen Paul-Hits, aber auch nebensächlichen, fast obskuren Songs. McCartney sagt: "Es ging ausschließlich darum, am Schluss etwas zu haben, das man gern hört." Und: "Vielleicht hört man das Ganze auf einer langen Autofahrt oder an einem Abend zu Hause oder bei einer Party mit Freunden." Ja nun, ja klar, danke.

"Pure" ist in Versionen erschienen: als Doppel-CD mit 39 Stücken, als Vier-CD-Box (67 Stücke), als Vierfach-LP (41) und als Download-Version (67). Hat McCartney 39 Songs ausgewählt oder 41 oder 67? Wird nicht verraten. Auf jeden Fall beginnt jede der Ausgaben mit "Maybe I'm Amazed", seinem besten Solo-Stück. Es könnte noch als Beatles-Original durchgehen, entstanden während der brutalen letzten Monate der Band.

Es folgen, sehr wild durcheinandergemischt, Momente aus allen weiteren Phasen. Die guten Songs der Wings, "Jet", "Band on the Run", "Silly Love Songs". Der unzerstörbare Bond-Titelsong "Live and Let Die". Die Kooperationen "Ebony And Ivory" (mit Stevie Wonder) und "Say Say Say" (mit Michael Jackson). Von den Solo-Alben Lieder wie "Pipes of Peace", "Coming Up", "No More Lonely Nights" . . . und ja, um ehrlich zu sein, da wird's eng, viele der Solo-Songs können schon gar nicht mehr als unbedingt bekannt vorausgesetzt werden.

Dafür fehlen Stücke, die man erwartet hätte: Fans diskutieren im Internet über ewige Streitfälle wie "Hope of Deliverance" (nettes Gute-Laune-Lied oder schwer erträglicher Schlager?) und Publikumslieblinge wie "Bluebird" (das er live gern mit "Blackbird" kombiniert, seinem viel berühmteren Vogel-Lied).

Staubige Aufnahmen neben fehlerlos kühlen Digitalproduktionen

Anderes dagegen taucht plötzlich auf, nachdem es 30 Jahre lang niemand beachtet hat, zum Beispiel das großartige "Temporary Secretary", ein früher Elektronik-Versuch von 1980 - damals von allen für bescheuert gehalten, viele Jahre später von britischen Kritikern als Techno-Vorläufer gepriesen (erst seit McCartney das mitgekriegt hat, spielt er es auch live. Interessant, wie sehr dieser Gigant dann doch auf die Meinung der Medien hört; sollte ihm die nicht längst völlig egal sein?).

Die Stücke sind nicht chronologisch geordnet, da stehen sympathisch staubige Aufnahmen aus den frühen Siebzigern neben fehlerlos kühlen Digitalproduktionen der Gegenwart, mal dröppelt ein Schlagzeug dumpf im Hintergrund, gleich im nächsten Stück schmatzt der Drumcomputer in maximaler Bit-Tiefe. Zum Durchhören fast ein bisschen anstrengend.

Das gilt aber noch mehr für die qualitativen Höhen und Tiefen: McCartney hat im Lauf der Jahre sehr viel Verschiedenes probiert - und dabei einen irrsinnigen Niveau-Slalom hingelegt, für jeden hübschen Folksong wie "Heart of the Country" gibt's einen hilflosen Disco-Klopper wie "Goodnight Tonight", wer sich am melancholischen Jazz-Chanson "My Valentine" wärmt, wird kalt geduscht mit dem vielgehassten Kinderfernsehen-Lied "We All Stand Together (The Frog Song)".

"Live and Let Die", "Band on the Run", das sind große Momente, klar, dafür dümpeln andere an der Grenze zum Totalausfall. McCartney war nie ganz geschmackssicher, er brauchte immer jemanden, der ihn im richtigen Moment bremste oder vorantrieb, ihm die Eins-zu-viel-Prise Kitsch verbot oder ihn zu mehr Risiko verleitete. Für die entscheidenden Jahre hatte er da einen. Für die folgenden 46 nicht.

Eigentlich schön, aber rätselhaft kaputtgenölt

Und ganz ehrlich: Viele Stücke klingen, als habe McCartney im Lauf der Jahre die Leidenschaft verloren. "Maybe I'm Amazed", da brüllt er noch, als ginge es um sein Leben - und Wahnsinn, konnte der Kerl brüllen damals! Später singelsangelt er so dahin, als würde er nur probeweise mitsummen, als sei er nicht ganz bei der Sache.

Außerdem wird noch mal klar, was für einen absurden Gesangsstil sich McCartney ab Mitte der 70er-Jahre angewöhnt hat. Da hat er eine Zeit lang - aus Spaß? Aus Atemnot? - gequäkt wie ein Gummifrosch, gut zu hören beim Wings-Lied "Nineteen Hundred and Eighty Five" aus dem Jahr 1974: eigentlich schön, aber rätselhaft kaputtgenölt. Er hat sich diese Art zu singen zum Glück später wieder abgewöhnt. Als hätte er ein anderer Paul werden wollen. Als hätte er den alten Paul nicht mehr ganz ernst genommen.

Aber Paul McCartney ist natürlich unbedingt ernst zu nehmen, Froschgequake hin oder her. Denn eines muss man sich ja immer wieder klarmachen: Er ist die noch lebende Hälfte des genialsten Pop-Duos des 20. Jahrhunderts. Er hat Lieder geschrieben, die den Stellenwert von Volksmusik haben, Lieder, die es scheinbar immer schon gab, die in jeder Ecke der Welt bekannt und vertraut sind. Menschheitslieder.

Und dann geht dieser McCartney auf Welttournee, spielt in ausverkauften Fußballstadien und singt "Yesterday". Und für den Moment wird wieder klar: Es gibt tatsächlich einen Menschen, der dieses Lied geschrieben hat. Er steht da vorn. Er singt es selbst. Das ist, als beträte jemand die Bühne und sagte freundlich lächelnd: So, hier, Matthäusevangelium - kennen Sie, ja? Hab ich geschrieben, schon ein bisschen länger her. Ich lese Ihnen noch mal ein paar schöne Stellen vor.

Dass später noch ein paar schwächere Kapitel folgten - geschenkt.

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