"CELLO-EINSATZ / von hinter dem Schmerz": so lautet der Beginn eines Gedichts von Paul Celan. Das zeigt seine Klangfarben in programmatischer Weise. Wenn man an ein Instrument denkt, das seine Gedichte am besten charakterisiert, bietet sich tatsächlich sofort das Cello an, und der Schmerz, den Celan selbst damit assoziiert, scheint naheliegend zu sein. Allerdings: es geht in diesem Gedicht um einen Bereich "hinter dem Schmerz", und worum es sich dabei genau handelt, was sich "hinter dem Schmerz" befindet und wie das auszudrücken ist, das berührt den Kern von Celans Poesie.
Gisela Dischner, eine seiner Geliebten, hat sich erinnert, was der Anlass für diesen Gedicht-Einsatz Celans war: nämlich der zweite Satz des Cellokonzerts von Antonin Dvorak. Damit sind wir sofort in den Bereich der Klassik verwiesen, in die Gefilde der Hochkultur, in denen dieser berühmteste deutschsprachige Dichter nach 1945 zwangsläufig verortet wird. Man sollte dabei allerdings nicht zu voreilig sein. Die Ästhetik Celans und seine Lebenswirklichkeit gestalteten sich weitaus differenzierter, als es seine posthume Sakralisierung in der Literaturwissenschaft vermuten lässt.
Celan lernte seine Frau im "Le Bal nègre" kennen
Anfang der fünfziger Jahre zog Celan eine Woche lang mit einer holländischen Gefährtin durch Paris, Diet Kloos, und dabei gingen sie auch in eines der Cafés in Saint-Germain-des-Prés, in die "Jakobsleiter", "L'Échelle de Jacob", in der Rue de Jacob. Der schwarze Sänger Gordon Heath trat dort mit sogenannten "Negro-Spirituals" auf und gab "Candlelight Concerts", und dabei sang er zum Beispiel auch Billie Holidays "Strange Fruit", ihren Protest gegen die Rassendiskriminierung in den USA.
Zentral war aber natürlich das in dieser Straße besonders passende Lied "We are climbing Jacob's ladder", das Lied von der Jakobsleiter mit der Verheißung einer verlorenen Heimat, mit der Befreiung der Schwarzen aus der Sklaverei, und Celan sah in seinen Briefen an Diet Kloos dabei explizit eine Parallele zu seiner Situation als exilierter Jude.
Im Dezember 1952 heiratete Celan Gisèle de Lestrange, die aus einer alteingesessenen aristokratischen Familie in Paris stammte. An dem Abend, an dem sie sich kennenlernten, gingen sie in das Tanzlokal Le Bal nègre in der Rue Blomet - es war die Zeit Juliette Grécos, die Zeit von Miles Davis in Paris und die Zeit des Cool-Jazz, und es war diese Art von Befreiung, zu der sich auch Gisèle de Lestrange hingezogen fühlte - gegen den Willen ihrer Familie heiratete sie diesen mittellosen osteuropäischen Juden, der sich vollkommen seiner Dichtung verschrieben hatte und durchaus das Leben eines Bohémiens führte. Auffällig viele Erinnerungen an ihn kreisen um revolutionäre Gesänge und rauschhafte Entgrenzungen.
Seine Mutter war geprägt von der Kultur des fin de siècle
Celan kam aus einer Welt, die in Westeuropa sehr fremd war und nach 1945 vollkommen verschwunden ist. Er wurde 1920 in Czernowitz geboren, einer entlegenen Stadt am östlichen Ende des ehemaligen Habsburgerreichs, die nach dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien gehörte. Das Besondere an Czernowitz war, dass das Bürgertum zum größten Teil aus Juden bestand, die Deutsch als ihre Muttersprache empfanden.
Und diese Muttersprache war bei Celan ganz konkret dadurch konnotiert, dass seine Mutter stark von der Kultur des Wiener Fin de siècle geprägt war, vom Ton des Burgtheaters. Die Mutter versuchte, ihren Sohn ganz in diesem Sinne zu erziehen, und das bildete sehr früh seine Vorstellung von Dichtung aus.
Celans Fixpunkte waren Rainer Maria Rilke, dessen Einfluss in seinen Gedichten der Czernowitzer Zeit unüberhörbar ist, aber auch Georg Trakl und Stefan George. Diese hohe Sprache der deutschen Lyrik erlebte der im Königreich Rumänien isolierte deutschsprachige Jude als seine mögliche Heimat. Und das zeigte sich in ganz besonderem Maß auch darin, dass er die Sprache der Wiener Schauspieler, die Tourneen bis nach Czernowitz unternahmen, begierig aufsog.
"Schlafen, schlafen, vielleicht auch träumen"
Er spielte früh gerne selbst Theater und deklamierte neben Gedichten auch Szenen etwa von Shakespeare, und von großer Bedeutung war für ihn die Diktion des in den zwanziger und dreißiger Jahren herausragenden Schauspielers Alexander Moissi. Dessen Eigenart bestand in einem auffällig singenden, melodischen Ton. Darauf hat Celans letzte Freundin Ilana Shmueli bereits in den neunziger Jahren hingewiesen. Aber erst vor zwei Jahren sind frühe Tonaufnahmen Celans aus dem Jahr 1952 entdeckt worden, die den Einfluss Moissis auf wirklich verblüffende Weise belegen.
Moissi wurde in Triest geboren, seine Muttersprache war Italienisch. Sein Deutsch hatte dabei einen ganz eigenen Akzent, denn seine mediterrane Herkunft reichte auch ins Osteuropäische hinüber: sein Vater stammte aus Albanien. Von Moissi sind einige wenige Schallplattenaufnahmen erhalten, auf denen seine Stimme mit seinen Smash-Hits zu hören ist: das "Schlaflied für Mirjam" des Wiener Fin-de-siècle-Protagonisten Richard Beer-Hofmann gehörte dazu, oder eine Partie aus Shakespeares Hamlet-Monolog "Sein oder Nichtsein".
Diese sehr einprägsame Stelle trug Moissi in einer Weise vor, die heute wie aus der Zeit gefallen scheint und in frühe Märchen- und Sagenwelten führt: "schlafen, schlafen, vielleicht auch träumen" - er dehnte die Silben genauso wie die Pausen zwischen den Worten. Es ist eine sich in unnennbare Sehnsüchte hineinfühlende Artikulation, leise und eindringlich, identifikatorisch, illusionistisch und musikalisch ausschwingend, ganz das Gegenteil dessen, was sich dann nach 1945 als schauspielerische Haltung durchgesetzt hat.
Celan hat wenige Tage nach seinem Auftritt bei der Gruppe 47 im Mai 1952 im Studio des NWDR in Hamburg einige seiner Gedichte gesprochen. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil die bisher bekannten Originaltöne Celans aus viel späterer Zeit stammen und bereits einen anderen Charakter haben. Diese frühesten Tondokumente von ihm jedoch sind in der Art und Weise, Wirkung zu erzeugen und die Sprache klingen zu lassen, Moissi noch zum Verwechseln ähnlich. Einmal heißt es bei Celan: "So schlafe, und mein Aug wird offen bleiben (...)" - und er "singt" sein Schlaflied genauso wie der große Schauspieler.
Celans Eltern wurden 1941 verschleppt und ermordet
Die Annäherung an den Vortragsstil, den Moissi zur Perfektion getrieben hatte und der durch den Geschichtsbruch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts für viele nicht mehr zeitgemäß erschien, ist unverkennbar. Es ist ein verblüffender Effekt: selbst in der Modulation seiner Stimme, seiner dialektalen Färbung, die dem tranceartigen Gleiten erst den unverwechselbaren Charakter verleiht, sind sich Moissi und Celan nahezu gleich.
Die hohe deutsche Dichtung, das gesangliche Pathos des Burgtheaters, die Kunst als Verheißung - in dieses Lebensgefühl ist Celan hineingewachsen. Dann aber geschah etwas abrupt Anderes. 1940 marschierte die Rote Armee in Czernowitz ein, im Juli 1941 wiederum besetzten Rumänen unter deutschem Kommando die Stadt. Celans Eltern wurden in das ukrainische Gebiet jenseits des Dnjestr verschleppt und dort ermordet. Celan war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt und wurde als Zwangsarbeiter in ein Lager eingezogen. Dieser biografische Bruch hatte auch auf sein Schreiben entscheidende Auswirkungen.
Der Wiener Ton der Jahrhundertwende, der spätromantische Duktus aus Verklärung und Verzicht wurde überdeckt und unmöglich gemacht durch deutsche Märsche, durch Stiefel, Schaufel und Grab. Berühmt wurde sein Gedicht "Todesfuge", in dem er diese Erfahrung sprachlich zu fassen versuchte. Die Welt der Konzentrationslager und die Welt der Kultur stoßen hier unmittelbar aufeinander, der Titel verweist auf die Form der Bachschen Fuge. Immer wieder tauchen Gegensatzpaare auf: jüdische Opfer und Nazitäter, Kultur und Barbarei, und sie werden wie in der Kunst der Fuge kontrapunktisch aufeinander bezogen, mit den Techniken von Variation, Umkehrung, Erweiterung und Verdichtung.
Zum Schluss wechseln sich die zentralen Motive immer schneller ab, analog zur Engführung in der Fuge. Durch diese Mittel erzielt das Gedicht eine suggestive Wirkung. Es ist aber äußerst aufschlussreich, dass Celan gerade dieser Wirkung seines Gedichts schon wenige Jahre später skeptisch gegenüberstand. Das wird häufig übersehen. Oft zitiert wird seine Klage, dass die "Todesfuge" "lesebuchreif gedroschen" worden sei. Die Erfahrung dieses Umgangs mit der "Todesfuge" bildete für Celan einen entscheidenden Wendepunkt in seiner lyrischen Entwicklung, und er wurde dabei immer radikaler.
Ihre Sprache ist nüchterner geworden, sie misstraut dem 'Schönen'
Die Fixierung auf die "Todesfuge", die natürlich oft mit politisch aufrichtigen Motiven verbunden ist, verkennt etwas durchaus Wesentliches. Celan hat bereits in den fünfziger Jahren die Sprache dieses Gedichts programmatisch hinter sich gelassen. 1958 schrieb er in einem kurzen poetologischen Text entscheidende Sätze, die auch Konsequenzen aus dem öffentlichen Umgang mit der "Todesfuge" zogen. Hier entwickelte Celan seine charakteristische, einzigartige Poetik.
Er sagte über die Dichtung: "Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sie her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarteten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem 'Schönen', sie versucht, wahr zu sein. Es ist also (...) eine 'grauere' Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre 'Musikalität' an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem 'Wohlklang' gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte."
Diese "grauere Sprache", die Schönheit und Musikalität anders färbt, ist für Celan die Sprache der Wahrhaftigkeit, die Sprache des Einzelnen. Sie entsteht aus der Verbindung zwischen seinen frühen Einflüssen durch den hohen deutschen lyrischen Duktus und der historischen Katastrophe, dem Terror der deutschen Nationalsozialisten ausgesetzt zu sein, die sich nicht zuletzt auch darauf beriefen. In dieser Spannung zwischen Kultur und Barbarei findet Celan zu seinem einzigartigen deutschsprachigen Ton. Celan arbeitet nun äußerst konsequent allem entgegen, was mit einer vordergründigen Verständlichkeit, Eindeutigkeit und Harmonie zu tun hat. Es geht um Vieldeutiges, um Ambivalenzen, um etwas Unauslotbares, es geht um die Leerstellen und Zwischenräume, um Assoziationsflächen und Wortvalenzen.
Sein Freund Franz Wurm hat später im Gespräch gesagt, dass in Celans späten Gedichten bei aller Scharfkantigkeit und Abruptheit wie in den kurzen Orchesterstücken von Anton Webern etwas durchzuhören ist, ein Klang, ein Rhythmus, ja eine melodische Linie. Und man kann hier genauso auch an das zweite Quintett von Miles Davis Mitte und Ende der sechziger Jahre denken, Celans unmittelbaren Zeitgenossen. Große Gedichte setzen da ein, wo das rein Semantische endet und die Musik anfängt - und Celan ist dafür eines der intensivsten Beispiele.