Paul Austers "Sunset Park":Unselige Zeiten in einer brüchigen Welt

Paul Auster erzählt in seinem neuen Roman "Sunset Park" von einem krisengeschüttelten Amerika. Inklusive Krieg, Brudermord und Entwurzelung. Doch für die große Parabel auf unsere Zeit ist sein Buch zu gut gemeint und harmlos - und mutet wie ein literarischer Patriot Act an.

Christopher Schmidt

Miles Heller ist 28 Jahre alt und ein alter Mann. Keinerlei Ehrgeiz treibt ihn noch an. Er war mal ein hochbegabter Junge mit besten Aussichten, doch vor bald acht Jahren hat er das College abgebrochen und den Kontakt zu seiner Familie ebenso. Seither übt er sich darin, im Hier und Jetzt zu leben, keine Pläne zu haben und keine Ziele, "soll heißen, nichts ersehnen und nichts erhoffen". Und nichts begehren. Von den Zigaretten lässt er die Finger, vom Alkohol und von den Frauen. Und auch was er an wechselnden Orten und in wechselnden Jobs verdient, als Aushilfskoch oder Möbelpacker, rührt er nicht an.

Paul Auster

Quo vadis, Amerika? Paul Auster 2006 neben einer Skulptur des Spaniers Eduardo Urculo in Oviedo.

(Foto: Luis Alvarez/dpa)

Der Leser begegnet diesem bedürfnislosen Miles im Jahr 2008 in Florida, wo er sich als Entrümpler durchschlägt. Das Geschäft läuft gut. Denn seit die Immobilienblase geplatzt ist, werden immer mehr Häuser aufgegeben, weil deren Bewohner ihre Kredite nicht mehr bedienen können. Oftmals lassen sie dabei große Teile ihrer Habe zurück, und Miles fotografiert all diese "aufgegebenen Dinge", er dokumentiert, was übrig geblieben ist von einem Leben, und jedes Haus erzählt ihm "eine Geschichte des Scheiterns". Miles ist so etwas wie ein Kriegsberichterstatter, ein Foto-Reporter an jener neuen Front, die mitten durch das eigene Land verläuft. Denn in Paul Austers neuem Roman "Sunset Park" ist Amerika ein Kriegsschauplatz und ein Trümmerhaufen, eine Nation, die ihre Schlachten nicht nur im Irak verliert, sondern auch in der Heimat.

Die Gleichsetzung von Krieg und Krise lanciert Auster durch ein etwas aufgesetztes Leitmotiv: Alle Figuren im Buch haben irgendwann William Wylers Film "Unsere besten Jahre" aus dem Jahr 1946 gesehen, in dem es um drei Kriegsheimkehrer geht und ihren langen Weg zurück ins zivile Leben. Für jeden der Protagonisten im Buch ist dieser Film ein wichtiger Referenzpunkt der Selbstwahrnehmung. Die Studentin Alice schreibt ihre Dissertation über, wie die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in populären amerikanischen Filmen und Büchern dargestellt werden. Und ihr neuer Mitbewohner Miles erinnert sie an die schweigsamen Männer dieser Generation, Gegenbild zu ihren Altersgenossen, denen die prägende Erfahrung des Krieges fehle. Man könnte auch sagen, sie erkennt in Miles den klassischen Helden - und der Autor sagt es uns mit ihren Worten nur zu deutlich.

Mythische Statur durch den Brudermord

Auch dadurch verleiht Paul Auster seinem Miles mythische Statur, dass er eine der traumatischen Ur-Szenen Amerikas in den Mittelpunkt des Romans stellt: den Brudermord. Bevor Miles untertauchte, hatte er seinen älteren Stiefbruder bei einem Streit auf den Highway gestoßen, Bobby war von einem vorbeifahrenden Auto mitgerissen worden und an seinen Verletzungen gestorben. Die Entsolidarisierung der Gesellschaft gleicht einem Brudermord, das heutige Amerika erinnere, ihn, wie Auster in einem Interview sagte, an die Zeiten des Bürgerkrieges. Die Präsidentschaft von George W. Bush habe die Nation gespalten, ein geteiltes Land hinterlassen.

Als Miles, der sich die Schuld am Tod des so ungleichen Bruders gibt, erfährt, dass dessen Mutter ihn "aus ihrem Herzen verbannt" habe, kommt er der Verstoßung zuvor und verschwindet, ein symbolischer Suizid. Er steigt hinab in die Unterwelt der Depravierten, jener, die aus dem System gefallen sind. Als er am Ende seiner Odyssee wieder in New York landet, schlüpft er bei seinem alten Schulfreund Bing unter, der eine "Klinik für kaputte Dinge" betreibt, in der er alte Sachen repariert. Bing ist ein sanfter Großstadtguerillero, ein Widerstandskämpfer eigener Art. Gemeinsam mit Gleichgesinnten hat er ein abbruchreifes Haus in Sunset Park, einem aufgegeben Teil von Brooklyn, gleich neben einem Friedhof besetzt.

Hier ist sie also lebendig begraben, die Jugend Amerikas, intelligente, engagierte, gut ausgebildete Menschen, die gleichwohl nicht mal die Miete zahlen können, eine chancenlose, um ihre Zukunft betrogene Generation. In prekäre Verhältnisse hineingewachsen, fehlt ihnen jede Orientierung (auch jede sexuelle Orientierung), zutiefst verunsichert, zweifeln sie an allem und jedem und am meisten an sich selbst. Ein Hoffnungsschimmer ist da nur die minderjährige Pilar, eine hochbegabte Exil-Kubanerin, in die sich Miles in Florida verliebt hat. Nun paukt er mit ihr für die Aufnahme an einem guten College, als habe er seine eigenen Ambitionen an sie delegiert. Sie ist seine Stellvertreterin. Doch weil Pilar minderjährig ist, muss Miles Florida für eine Zeit verlassen, so gelangt er zurück nach New York. So viel zum Hebel der Handlung.

Auf der haltlosen Suche nach Identität

Der allwissende Erzähler taucht immer wieder in die Geschichten der Figuren ein, neben Miles' zerzauster Wohngemeinschaft und deren Anrainern sind dies die Eltern. Und hier liegt die sträfliche Unschärfe des Romans. Austers Versuch, die verschiedenen Lebensgeschichten zur großen Parabel nicht nur auf den wirtschaftlichen, sondern den moralischen Bankrott der USA hochzuziehen, ist überfrachtet, aber dabei merkwürdig pauschal. Er packt zu viel Disparates in den Roman hinein. Im Bemühen, die Krise durch alle Milieus durchzudeklinieren, verliert das Szenario an Kontur, schrumpft die Klammer, die alles zusammenhält, zur banalen Metapher. Der Gemeinplatz ist hier das Sammelbecken, wo all seine Mühseligen und Beladenen, die Obdachlosen des amerikanischen Traums Asyl finden: eine Geschichte von Scheitern und Verlusten, Beschädigungen und Schicksalsschlägen.

Die Botschaft von Austers Buch ist so simpel, wie das, was Miles einmal als Zehnjähriger in einem Schulaufsatz geschrieben hatte: dass Verletzungen ein wesentlicher Teil des Lebens sind und man kein Mann werden könne, ohne Verletzungen davongetragen zu haben. Miles Vater Morris, der Verleger "in einem Land, dessen Bewohner Bücher hassen", erinnert sich an diese Sätze seines Sohnes. Auch Morris steckt in einer Krise: Sein Verlag steht vor der Pleite, und wegen eines dummen Seitensprungs muss er nun fürchten, nach dem Sohn auch noch seine Frau zu verlieren. Schon antizipiert er eine Zukunft, in der er als Leergutsammler, als "Dosenmann" durch die Slums zieht.

Und dann ist da noch Miles' Mutter, die berühmte Schauspielerin, die gerade am Broadway die Winnie in Becketts "Happy Days" spielt, während ihr Mann, ein Autorenfilmer, im krisengebeutelten Hollywood keinen Film mehr finanziert bekommt. Es geht um die Brüchigkeit der Patchwork-Familie, die eben doch nur "eine zusammengeflickte Einheit und kein fugenloses Ganzes" sei, so Auster überraschend konservativ. Aber es geht auch um die Suche nach der Identität in einer Welt, die keine Option, keine Spielräume mehr zu bieten scheint. Und keinen Halt. Doch allzu oft dienen die populärmythischen Schicksalsschläge einstiger Baseball-Legenden als Sinnbild für das blinde Schicksal und die Wechselfälle des Lebens.

Amerika als zerstörerisches Ungeheuer

Auster spart nicht an Amerika-Kritik, wenn er schreibt, dass das Land seinen Optimismus verloren habe, seinen unerschütterlichen Glauben an sich selbst und "zu einem kranken, zerstörerischen Ungeheuer" mutiert sei. Im Roman bietet er ein versprengtes Häuflein Aufrechter auf, die das bessere Selbst Amerikas repräsentieren: Leute wie Alice, die beim Pen arbeitet und sich für den inhaftierten chinesischen Dichter Liu Xiaobo einsetzt, wie Morris, den aufrechten Büchermenschen, und wie Mary-Lee, die als Schauspielerin die Fackel der Hochkultur hochhält. Aber dieses Anliegen, die moralische Integrität zu verteidigen, zeitigt einen Heroismus, der allzu pathetisch und cheesy wirkt und über ein recht dürftiges Bekenntnis zum schmerzgeprüften Wert des Menschlichen nicht hinauskommt.

Irritierend ist zudem ein Moment der Konstruktion: Denn Bing ist nicht nur Miles' treuer Freund, sondern auch ein Spion. Er, der als einziger Kontakt zu ihm hatte, hielt die Eltern die ganzen Jahre über Wohl und Weh ihres Sohnes auf dem Laufenden. Der Vater war daraufhin mehrmals angereist, um den Sohn zu treffen, hatte sich dann aber darauf beschränkt, ihn aus der Ferne zu beobachten. Dass er dabei zufällig Zeuge einer Schlüsselszene wurde, als Miles Pilar im Park kennenlernte, dass er just an diesem Schwellenmoment zur Stelle war, strapaziert nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern ist geradezu ein Symbol für einen latenten Generationenkonflikt. Schließlich wird Miles' Ausbruch dadurch von vornherein entwertet. Aus der Distanz behütet und bewacht, wirkt alles nur wie eine Sandkastenrebellion, eine Farce. Und auch er selbst machte sich schuldig, als er Pilar von ihren Schwestern freikaufte und seine wahre Identität verheimlichte.

Doch die subtilen Verratsmotive, der Vampirismus, der das Buch durchzieht - er wird nicht aufgelöst, ja nicht einmal reflektiert. So gewinnt man den Eindruck, Auster habe die innere Stimmigkeit dem Handlungsgerüst geopfert. Oder sich von seiner Sympathie für die Erziehungsberechtigten verleiten lassen. Das verstimmt.

Übrigens verzichtet Paul Auster auf alle postmodernen Taschenspielertricks. Als sei es in harten Zeiten wie diesen unstatthaft, ja geradezu frivol, den Leser zu narren, als fordere die Stunde einen "Moralismus der Form", wie Thomas Mann das genannt hat. "Sunset Park" zeugt von einem Erzählen, das glaubt, beherzt zupacken zu müssen, statt sich im verspielten duck and cover zu gefallen. Wie Auster seine Freiheiten freiwillig beschneidet und allfälligen Tändeleien entsagt, wie er gewissermaßen endlich "erwachsen" schreibt - das könnte man für eine Art literarischen patriot act halten. Papis patriot act sozusagen. Allerdings hat der Autor sich dabei auch ein Stück weit selbst entzaubert, und man könnte meinen, dass er die Bluffs, das Versteckspiel seiner bisherigen Bücher nur brauchte, damit man nicht sieht, was sich hinter der Maske des Gauklers verbirgt: ein veritabler Herzschmerz-Kitschier.

Paul Auster: Sunset Park. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rohwolt Verlag, Reinbek 2012. 320 Seiten, 19,95 Euro.

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