Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Patrizia Cavalli:Hinter der Unermesslichkeit

Die italienische Dichterin Patrizia Cavalli ist mit 75 Jahren in Rom gestorben.

Von Maike Albath

Sie hatte einen leichtfüßigen Groove und streunte wie eine römische Katze zwischen klassischen Versmaßen und Alltagsbeobachtungen hin und her: die Dichterin Patrizia Cavalli, eine kleine, rundliche Person, die ihre Texte auswendig vortrug, sich im Rhythmus ihrer Verse wiegte und ihre Zuhörer auf Festivals regelmäßig mitriss. "Fresko der Tauchernacht/ versunken im Gehege von Rollen/ die den Schauspieler beengen, Wortgehäuse,/ Hunger und Sehnsuchtsgrube um zwei Uhr/ nachmittags, die Zwischenstunde/ die gebetlos ist und nichts vermutet/ sondern sich seltsam abmüht hinter der Unermesslichkeit", skandierte sie und erreichte Auflagen von über 5000 Stück.

1947 in Todi geboren, entkam Cavalli der Provinz und ging nach Rom. Ihre Mischung aus nassforscher Neugierde und Schüchternheit machte auf die Schriftstellerin Elsa Morante Eindruck: Beinahe täglich holte Patrizia Cavalli die gefeierte ältere Kollegin zum Mittagessen ab.

Morante verhalf ihr 1974 zu ihrem Debüt im renommierten Turiner Einaudi-Verlag. "Meine Gedichte werden die Welt nicht verändern" hieß der Band, auf den sieben weitere folgten, oft im Abstand von mehreren Jahren. Ihre Texte kreisen um kleine Epiphanien und sind Versuche, eine andere Zeitdimension zu erreichen. Aber trotz der Bezüge auf die Knappheit Giuseppe Ungarettis setzte Patrizia Cavalli nicht die Linie der italienischen Hermetik fort, sondern knüpfte an die erzählende Tradition von Umberto Saba und Sandro Penna an. Am 21. Juni 2022 ist die Dichterin gestorben, die sich so gut auf Abwesenheiten verstand: "ich verliere mich/ unterwegs, falle Tag für Tag auseinander/ und jede Rückkehr ist vergeblich".

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