Salzburger Festspiele:Blick nach Zorn

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Unbändig musikalisches Temperament: Patricia Kopatchinskaja. (Foto: Marco Borggreve)

Ein Abend mit der wilden Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Salzburger Mozarteum.

Von Harald Eggebrecht und Egbert Tholl

Als der Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters, Teodor Currentzis, Patricia Kopatchinskaja bei einem Podiumsgespräch in Stuttgart 2020 fragte, ob sie lieber im Sonnenlicht des Musikestablishments spielen würde, antwortete die Violinistin nahezu entsetzt, nein, nein, sie liebe den Schatten, es gebe viel mehr Farben dort, sie brauche Schmerz, Zorn und Trauer, aber manchmal auch Sonne, wie es im Leben eben sei. In einem anderen Gespräch sagte sie, Verzweiflung sei ein Antrieb, ohne Spannung keine Lösung.

Wer sie auf dem Podium erlebt wie jetzt in Salzburg - und Kopatchinskaja ist zuallererst ein theatralisches Ereignis auf der Bühne -, bekommt nie routiniertes Großsolistinnentum geboten, sondern das Experimentelle, Abenteuerliche, Überraschende, das Prinzip ihrer ganzen Musikerexistenz. Das beginnt damit, dass sie meist barfuß auftritt, um einen besseren Kontakt mit der Erde zu haben. Sie fühle sich so stabiler. Würde sie ihre Füße am Boden nicht spüren, sei sie in Gefahr davonzufliegen, so ihre Empfindung.

Mit diesen Füßen schleicht sie wie ein scheuer Clown auf das Podium des Großen Saals im Salzburger Mozarteum, zusammen mit vielen der Musikerinnen und Musikern, mit denen sie vor Kurzem Arnold Schönbergs "Pierrot lunaire" auf CD herausgebracht hat. Sie trägt Kostüm, ist ein Pierrot, die anderen sehen aus, als kämen sie gerade von der Straße, nichts erinnert hier an Repräsentation. Und dann beginnt ein Konzert, ein wundersamer Theaterabend, bei dem Patkop, so ihr Branchenname, die 21 Gedichte, auf deren Basis Schönberg seine gleißenden, zersplitternden, hochexpressiven Melodramen schuf, mit irrlichterndem Leben füllt.

Sie sei ein Pulverfass, sagte sie mal. Wäre es nicht so, würde sie in einer Bank arbeiten

Als Geigerin kennt sie das Stück in- und auswendig, nun wollte sie einmal den Sprechgesang selber machen, die Worte genüsslich kauen und schmecken, sie in verrückte Höhen schicken, gurren, grunzen und grollen, die Sprache mit tausend Farben versehen, bis am Ende über das Publikum hinweg der "alte Duft aus Märchenzeit" schwebt. Sie ist Pierrot und zeigt aber auch, dass sie ihn vorführt, zusammen mit der jahrhundertealten Tradition der Figur, Theaterlicht illuminiert den Raum.

Aber Geige spielen will sie auch. Der allerzarteste Beginn, direkt auf Schönbergs Klanggespinste zielend, ist ein Stück von Carl Philipp Emanuel Bach, das sie selbst zu einer hingetupften Ahnung arrangiert hat. Zwischen den drei Blöcken mit je sieben Melodramen spielt sie mit der Handvoll Kollegen mit überbordender Musikalität zwei Strauß-Walzer, bearbeitet von Schönberg und Anton Webern. Was für ein kluger Spaß, dargeboten mit Leidenschaft, fast wie von einer Jazzcombo. Der "Kaiserwalzer" klingt nicht mehr nach Hofburg, eher nach Dorf, unbedingt nach frischer Luft, es wehen Schrammel-Schmäh und Melancholie hindurch, der große Tanz ist nur noch Erinnerung, die Musik ein glitzernder Abgesang auf jede vergangene k. u. k. Herrlichkeit, aber immer noch mit Grandezza.

Kopatchinskaja stammt aus einer Musikerfamilie. Sie wurde 1977 im moldauischen Chișinău geboren, das damals noch zur Sowjetunion gehörte. 1989 emigrierte die Familie nach Wien. Dort und in Bern studierte sie, wo sie heute mit ihrem Mann, dem Arzt, Politiker und Schriftsteller Lukas Fierz, und der gemeinsamen Tochter lebt. Spätestens mit ihrem ersten Platz beim Henryk-Szeryng-Wettbewerb in Mexiko 2000 war der Weg zum Weltruhm vorgezeichnet.

Aber nie hat sich diese fulminante Musikerin auf gepflegte, satt klingende Mezzoforte-Geigerei verlassen. Sie wollte und will berühren, weil sie selbst von jeder Musik, die sie spielt, berührt sein will. Patricia Kopatchinskaja umweht eine Aura von wilder Empfindsamkeit, die gerade ihre gelungenen Auftritte zu waghalsigen Manövern am Rande des Absturzes machen. Dass sie mit ihrer Risikobereitschaft, Neugier, ihrer Lust an Verzweiflung und Humor, an geigerischem Irrwitz und Leidenschaft für das Dunkle und Abgründige in der Musik zahlreiche Komponisten der Gegenwart inspiriert hat, für sie Stücke und Konzerte zu schreiben, verwundert nicht.

Der Musikbetrieb ist für sie ein Museum lauter zu Tode geliebter Stücke

In einer WDR-Reportage von 2012 hat sie über sich selbst gesagt, sie sei ein Pulverfass, ganz nah an ihren Emotionen dran. Wenn es nicht so wäre, könne man ja auch in einer Bank arbeiten. Unermüdlich attackiert sie den gängigen Musikbetrieb als falsch verstandenes Museum der kaum unterscheidbaren Wiederholungen des Immergleichen. Sie entwirft dafür ein einleuchtendes Bild: Man säße im Auto und schaue ununterbrochen durchs Rückfenster und sage und klage wehmütig, wie schön doch alles einst war. Stattdessen sollte man nach vorne schauen, die Gegenwart wahrnehmen und nicht die wohlbekannten Stücke gleichsam zu Tode lieben durch eingeübte Standardisierung.

Inzwischen gestaltet sie selbst Programme, die dem üblichen Betrieb kühn und wohltuend widersprechen und auch ein inhaltliches Anliegen haben. Da schlägt sie in der Salzburger Kollegienkirche zu später Stunde auf die Trommel bei ihrem nachtschwarzen, dabei höchst witzigen Instrumentaltheater "Dies Irae", dessen dunkler Kern ein Werk der russischen Komponistin Galina Ustwolskaja ist. Dazu flicht sie mit einer Schar junger Instrumentalisten und Chorsängern Musik aus fast fünfhundert Jahren ineinander, darunter Heinrich Ignaz Franz Biber und George Crumb, dazu kommt noch der titelgebende gregorianische Hymnus. "Wenn ich heute an die Umwelt denke, denke ich an das Ende der Welt", sagt sie zu "Dies Irae".

Aber auch sonst hat Kopatchinskajas Musizieren immer mit der Gegenwart und all ihren Problemen zu tun. Zu denken, Musik oder Kunst sei je unpolitisch gewesen oder könne es sein, findet sie lächerlich. Also schlägt sie Beethoven im Nachtkonzert vor und nicht als Wohlfühlstück im Abonnement, spielt das Konzert in raschen Tempi wie einst Josef Wolfsthal und Bronislaw Huberman. Selbstverständlich orientiert sie sich an Beethovens eigenen Kadenzen für die Klavierfassung des Konzerts, sodass am Ende alle verblüfft sind über das Rebellische und Widerborstige dieses Stückes, das so oft und zu Unrecht glattgebürstet wird. Außerdem liebt sie es, mit Geistesverwandten Kammermusik zu machen, etwa mit der Cellistin Sol Gabetta, dem Pianisten und Komponisten Fazıl Say und dem Klarinettisten Reto Bieri.

Dass sie lange Zeit keine Studioaufnahmen machen wollte aus eben dem Grund der andauernden Wiederbegegnung mit dem längst Bekannten, zeigt, wie sehr Kopatchinskaja an den Augenblick der jeweiligen Aufführung glaubt und ihm verpflichtet ist, ganz unabhängig von Gelingen oder Missglücken. Besser sei es zu suchen, als falsch gefunden zu haben. Fehler gehörten zum Risiko, das sie der Sicherheit angeblicher Perfektion vorziehe. Das gilt für alle ihre Projekte, seien es Konzerte mit Experten der historischen Aufführungspraxis oder eine der vielen Uraufführungen von Stücken, die für diese quecksilbrig die ständige Verwandlung anstrebende Künstlerin geschrieben wurden und werden. Jeder Komponist kann sich glücklich schätzen, eine Solistin zu haben, die vor Geist, Witz, Aggressionsfeuer und blitzender Fantasie derart sprüht.

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