Parlamente in Europa:Lehren aus Vichy und Weimar

Nur keine Illusionen, Europa ist eine antiparlamentarische Veranstaltung. Das ist so gewollt. Denn die Geschichte zeigt deutlich: Zu viel Macht für die Volksvertreter tut nicht gut. Und Misstrauen kann die Demokratie stärken.

Jan-Werner Müller

Noch rätseln viele Juristen, Politiker und nicht zuletzt Bürger über die Bedeutung des jüngsten Europa-Urteils des Bundesverfassungsgerichts - insbesondere die Frage, ob sich Eurobonds mit dem Grundgesetz vereinbaren lassen. In einem aber scheinen sich alle einig zu sein: Karlsruhe hat den Bundestag gestärkt, und das ist auch gut so.

Kinderdienst: Was machen die Politiker im Europaparlament?

Das Europäische Parlament hat seit dem Lissabon-Vertrag an Kompetenzen gewonnen. Ob Europa deshalb demokratischer geworden ist, ist fraglich.

(Foto: ddp)

Wer weniger europäische Integration möchte, kann nun auf das Parlament als weiteren Hüter deutscher Demokratie hoffen. Wer mehr Integration will, kann immer noch besonders europafreundliche Parteien wählen, im Vertrauen darauf, dass die Abgeordneten dann europafreundliche Entscheidungen treffen. Aber sogar wer den ganz großen Sprung ins Ungewisse - die Vereinigten Staaten von Europa - will, fordert für gewöhnlich eine stärkere Volksversammlung - nämlich ein Europaparlament, das der Europäischen Kommission klare Vorgaben macht und sie effektiv kontrolliert. Egal welches politische oder rechtliche Spiel man in Europa spielen will: Der Parlamentarismus erscheint immer als Gewinner.

Dabei wird völlig übersehen, dass die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft ebenso wie die Architekten der westeuropäischen Verfassungen nach 1945 in kaum eine Einrichtung weniger Vertrauen hatten als in Volksvertretungen. Das politische Gebäude Europa, in dem wir leben, beruht geradezu auf einem antiparlamentarischen Grundriss. Diejenigen Institutionen, welche sich fast überall im Nachkriegseuropa durchsetzten, dienten vor allem dazu, Volkssouveränität - und ihren Ausdruck in Parlamenten - einzuhegen: An erster Stelle das Verfassungsgericht, das 1919 von dem österreichischen Rechtstheoretiker Hans Kelsen erfunden wurde und sich nach 1945 in fast allen westeuropäischen (und nach 1989 in fast allen osteuropäischen) Demokratien etablierte. Ein Verfassungsgericht ist keine Kopie des amerikanischen Supreme Court, sondern eine Institution, die größtenteils nichts anderes betreibt als "negative Gesetzgebung" - also primär das Parlament in seine Schranken verweist.

Was erklärt dieses tiefe Misstrauen gegenüber Volksvertretungen? Vor allem die Lehren, welche die Europäer aus dem katastrophalen Verlauf der ersten Jahrhunderthälfte zogen: Was der Staatsrechtler Hugo Preuß, ein Vater der Weimarer Verfassung, einmal "Parlamentsabsolutismus" nannte, lief stets auf die Gefahr hinaus, dass Volksvertretungen ihre ganze Macht an einen Hitler oder an einen Marshall Pétain, den Führer des Vichy-Regimes, übertrugen. Bis dahin hatte vor allem das britische Modell suggeriert, moderne Demokratie heiße repräsentative Demokratie - und je weniger Restriktionen die Repräsentanten unterlagen, desto demokratischer. Noch in der Weimarer Republik hatte das Reichsgericht dem Gesetzgeber "Selbstherrlichkeit" zugestanden.

Nach dem Krieg setzte sich eine andere Idee in den Köpfen fest: Gerade nicht direkt von den Bürgern gewählte Institutionen können eine Demokratie stärken, ja den Erfolg einer Demokratie erst ausmachen. Zugespitzt gesagt: Der Antiparlamentarismus im Nachkriegseuropa ist eine Form von Antitotalitarismus, nicht von Antiliberalismus; und sein Musterland ist die Bundesrepublik, vor allem wegen eines Verfassungsgerichts, das spätestens seit 1989 zu einem globalen Exportschlager für junge Demokratien geworden ist.

Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Konstitutionalisierung des Europarechts durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg sind prägnante Beispiele dafür, wie auch die Delegierung von Macht an supranationale Institutionen nationale Demokratien festigen sollte - unter bewusster Ausschaltung der Parlamente.

Das schwächste Parlament des Westens: Frankreich

Was über die Jahre in Brüssel und Straßburg entstand, kam denn auch so gut wie völlig ohne die Kernideen repräsentativer Demokratie aus: Die europäischen Institutionen übernahmen immer mehr Funktionen - allerdings nicht in Eigenregie, sondern unter Aufsicht durch die nationalstaatlichen Exekutiven. Was "Europa" an Legitimität besaß, leitete sich erst durch zwei Schritte aus Wahlen ab, denn größtenteils wurden auch die nationalen Regierungen nicht direkt von den Bürgern bestimmt. Wahlen zum Europaparlament, 1979 dem damals an "Eurosklerose" krankenden Integrationsprojekt als eine Art demokratischer Muntermacher verschrieben, haben die politische Phantasie der europäischen Bürger nie entfacht; die Wahlbeteiligung ist seit dreißig Jahren stetig gesunken.

Parlamentsskeptizismus ist somit kein deutscher Sonderweg, auf dem Carl Schmitt und andere Antiliberale vorausgingen, sondern nach 1945 ein europaweiter Trend; er ist auch nicht automatisch Antiwestlertum, denn das schwächste Parlament des Westens befindet sich nun mal westlich der Bundesrepublik: Die französische Assemblée Nationale. Sogar in Großbritannien, wo es früher einmal hieß, das Parlament könne alles, außer einen Mann in eine Frau zu verwandeln, wurde unter der New Labour-Regierung die Europäische Menschenrechtskonvention ins britische Recht übernommen und ein Supreme Court geschaffen. Subjektiv ist kaum noch nachvollziehbar, dass es einst ehrenvoller war, sich Mitglied des House of Commons - der "Mutter aller Parlamente" - zu nennen, denn einen Minister der britischen Regierung zu stellen.

Ganz unabhängig von den Lehren aus dem Zeitalter der Extreme verloren Parlamente zudem spätestens seit den sechziger Jahren viel ihres verbleibenden Ansehens: Innerhalb des Staates übertrugen die Exekutiven immer mehr Aufgaben auf allerlei Kommissionen wie den Ethikrat; von außen belagerten immer energischere Bürgerbewegungen die Volksvertretungen.

Seit einigen Jahren nun versuchen europäische Eliten, diesen Trend umzukehren: Der Lissabon-Vertrag räumte den nationalen Parlamenten mehr Befugnisse ein; das Europaparlament hat wenn nicht an Prestige, so doch zumindest an Kompetenzen gewonnen; und das Bundesverfassungsgericht setzt ein ums andere Mal auf den Bundestag als Inkarnation deutscher Demokratie.

Nur - diese Stärkungen von Volksvertretungen erscheinen hier als eine Art normatives Trostpflaster, weil sich in der Vorstellung der europäischen Bürger Demokratie immer noch primär mit direkten Wahlen verbindet. Auf einen Ausgleich des europäischen "Demokratiedefizits" summieren sich diese Stärkungen nicht notwendigerweise - zumal sich punktuelle Machtgewinne für Parlamente nicht ohne weiteres in die politisch-rechtliche Gesamtarchitektur Europas einfügen. Sie könnten unter Umständen sogar seine Statik gefährden.

Auch praktisch ist fraglich, wieweit eine Stärkung des Bundestages in der derzeitigen Krise hilft: Für die Märkte, so manche Kritiker, agiert noch der schnellste Parlamentsausschuss zu langsam; für diejenigen, die wie Karlsruhe fordern, dass die Abgeordneten wirklich "Herren ihrer Entschlüsse" bleiben, geht alles wohl immer noch viel zu schnell. Zumal sich wohl kein Volksvertreter zum großen Entschleuniger machen wird, wenn es - wie vergangene Woche bei der Abstimmung über den erweiterten Rettungsschirm - scheinbar um nichts weniger als die Rettung Europas (und damit letztlich um die deutsche Staatsraison) geht.

So sehen sich die Europäer - und die Deutschen im Besonderen - vor die Wahl gestellt: Wirklich mehr Parlamentarismus wagen, Europas Architektur neu entwerfen und sich auf die damit verbundenen Risiken einlassen - oder nüchtern akzeptieren, dass sie in einer politischen Welt leben, die schon seit langem von Exekutiven und nicht-gewählten Spezialisten dominiert wird.

Der Autor lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University. Im Jahr 2012 erscheinen "Furcht und Freiheit: Ein anderer Liberalismus" sowie "Das demokratische Zeitalter: Politische Ideen in Europa, 1914 - 1991" (beide bei Suhrkamp, Berlin).

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