Süddeutsche Zeitung

Debatten:Schleichwege in die Zukunft

In Paris wollen Wissenschaftler die großen Krisen der Menschheit neu angehen.

Von Joseph Hanimann

Im Pariser Centre Pompidou konnte man am vergangenen Wochenende seltsamen Traumwandlern mit Kopfhörern begegnen, die an Tischen oder auf dem Boden sitzend oder gedankenverloren herumschlendernd Dialogen zuhörten, die an anderen Tischen geführt wurden. "Le Parlement des liens", Parlament der Verbindungen, hieß diese erste nach dem Lockdown wieder frei zugängliche Veranstaltung des Centre. Fünfzig Wissenschaftler, Ökonomen, Philosophen, Juristen, Ärzte, Architekten, Schriftsteller, Künstler unterhielten sich jeweils im Zweiergespräch darüber, wie man angesichts der ökologischen, gesellschaftlichen, zivilisatorischen Krise großräumig über Fachgebietsgrenzen hinaus von den sich stellenden Problemen spricht.

Nicht durch analytisches Trennen und Stabilisieren der Bereiche mit Schemen wie Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, mahnen Henri Trubert und Sophie Marinopoulos, die Leiter des 2009 gegründeten sozialwissenschaftlichen Verlags mit dem programmatischen Namen "Les Liens qui libèrent": Bindungen, die befreien. Sie waren die Initiatoren des Treffens im Centre Pompidou und haben dafür in ihrem Verlag ein Manifestbuch unter dem Titel "Relions-nous!" herausgegeben. Die Anspielung auf Stéphane Hessels Aufruf "Empört euch!" aus der Zeit der Occupy-Bewegung ist deutlich. Ebenso jedoch der Kontrast zu dessen unmittelbar an die Zivilgesellschaft gewandte Ausrichtung. Warum braucht der interdisziplinäre Austausch ein "Parlament"? Zumal eins mit einem Publikum, das unter den Kopfhörern wie in fremden Sprechblasen gefangen den Expertengesprächen lauscht?

Wenn der Physiker beim Öko-Philosophen mal hart nachfragt, was es mit dem Bewusstsein der Pflanzen wirklich auf sich hat

Mit dem Gedanken eines Parlaments wollten die Veranstalter eher aufs freie Parlieren als auf institutionelles Debattieren anspielen. Das Denken sollte im Stadium noch vor der begrifflichen Verhärtung erfasst werden. Das geschah tatsächlich, wenn etwa die Juristin Sarah Vanuxem im Gespräch mit dem Schriftsteller Camille de Toledo fragte, wie Tiere, Pflanzen oder Flüsse sich als Inhaber von Rechten im Sinne von Christopher Stones "Should Trees Have Standing?" bestimmen lassen, und die Vermutung äußerte, Teile des bestehenden Code civil ließen sich bereits heute als Vorwegnahmen eines "juristischen Animismus" deuten. Auch die von der Soziologin Dominique Méda angeregte Idee einer "Metaphysik des alltäglichen Wohlbefindens" als Gegengift zur Obsession von Bruttosozialprodukt und wirtschaftlichem Wachstum steckt noch im konzeptuellen Dämmerzustand. Und wie weit die Strategie einer viralen Ausbreitung der Gedanken in der Gesellschaft, von welcher der Science-Fiction-Autor Alain Damasio schwärmt, die Konfrontation der Argumente erweitert oder eher unterläuft, ist alles andere als gewiss.

Gerade auf diese Ungewissheit kam es den Teilnehmern des Pariser Brainstorm-Parlaments aber an. Darwinismus, Quantenphysik, Psychoanalyse oder ungegenständliche Kunst hätten den Übergang von einem durch Objekte und Kategorien geprägten Weltmodell zu einer Auffassung der Interaktionen, Querverbindungen und fließenden Übergänge schon eingeleitet, heißt es in der Programmschrift "Relions-nous!". Doch in der Gesellschaft sei dieser Wechsel bis heute noch nicht wirklich angekommen. Die neuen Probleme von Klimawandel, Finanzkapitalismus, Arbeits- und Freizeitgesellschaft würden von den Entscheidungsträgern mit den alten Begriffen angegangen. In einer Ära der zerbrochenen Harmonie werde politisch und wirtschaftlich weiterhin in der Tonalität von Bach und Mozart Zukunftsmusik gemacht, lautete ein in mehreren Diskussionen aufgetauchter Einwand.

Was auf sozial- und humanwissenschaftlichem Gebiet bei solchen Unternehmen gern in spekulative Aufregung über die Zukunft im Keimzustand hinausläuft, nahm klarere Gestalt an, wenn etwa der Physiker Étienne Klein beim Öko-Philosophen Emanuele Coccia hart nachfragte, was genau er mit seiner Behauptung von einem "Bewusstsein der Pflanzen" meine, oder wenn der in der Banlieue aktive Sozialdesigner Makan Fofana mit der Sprachphilosophin Jeanne Ételain zusammen die Bedeutungsfelder des Begriffs "Zone" von der städtischen Randzone bis zur erogenen Körperzone abklopfte. Doch fehlte bei diesem eifrigen Sondieren nach Schleichpfaden in die Zukunft die zu jedem Parlament gehörende Dimension der kontradiktorischen Auseinandersetzung. Zu oft traf man sich bei diesen Werkstattgesprächen in freudiger Einstimmigkeit.

Es sei das "Jahr eins für das Knüpfen von Querverbindungen" verkündet im Untertitel das erschienene Manifest

Ein Grund dafür dürfte sein, dass auch dieses Projekt in die vorübergehende Windstille des Covid geraten war. Was in größerem, auch international besetztem Rahmen hätte anlaufen sollen, musste unter den Bedingungen der Reisesperre und des bloß digital vermittelten Austauschs beginnen, was dem gemeinsamen Schürfen nach Keimformen der Zukunft kaum zuträglich ist. "Jahr eins für das Knüpfen von Querverbindungen" lautet im Untertitel aber das erschienene Manifest. Nach dem Sommer sollen bis September 2022 zehn weitere Treffen auch mit Politikern, Unternehmern und Jugendverbänden stattfinden. Und in der Gegend der südfranzösischen Kleinstadt Uzès wird für nächstes Jahr als Pilotversuch die Bildung einer "Société des liens" angekündigt. Diese Rückübersetzung des Spekulativen ins Lokale folgt einem Modell, das der Soziologe Bruno Latour - wohl eine geheime Referenzfigur des Unternehmens - seit Monaten mit seinen Wanderparlamenten praktiziert. Vom Wurzelschlagen der Worte bis zu ersten Taten ist es allerdings ein langer Weg.

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