Pariser Ausstellung zu Kunst und Mathematik:Sehnsucht der Kurve

David Lynch rechnet - und macht damit Kunst: Eine neue Ausstellung in der Fondation Cartier bringt Mathematiker und Künstler zusammen. Ein gelungenes Experiment.

Joseph Hanimann

Manche Universitäten haben in ihren Lagern noch abstrakte Gipsfiguren stehen, mit denen den Studenten einst komplizierte mathematische Modelle erklärt wurden. Der japanische Fotokünstler Hiroshi Sugimoto hat solche "Mathematical Forms" aus Deutschland in der Universitätssammlung Tokyo abfotografiert. Sie erinnerten ihn an Skulpturen von Brancusi.

PFAU SCHLÄGT RAD

Schillernde Pfauenfedern begeistern Mathematiker wie Künstler gleichermaßen.

(Foto: DPA)

Eine davon mit der Form eines Trichters, eine so genannte "Pseudo-Sphäre", hervorgehend aus der Rotation zweier gegeneinander gekrümmter Linien, deren Enden sich im Unendlichen treffen, hat er auch selber nachbauen lassen, aus Aluminium. Waren die Gipsmodelle von einst noch weit entfernt, diesen Punkt im Unendlichen auch nur andeuten zu können, so stößt in Sugimotos drei Meter hoher Aluminium-Plastik die feine Trichterspitze tatsächlich fast an den Bereich des Unsichtbaren, Unendlichen. Material steht hier für abstrakte Denkbilder ein, oder ist es umgekehrt? Und die Zusatzfrage lautet: Schaffen Mathematiker ihren Gegenstand, wie Künstler es tun, oder spüren sie etwas Vorgegebenes auf, bilden Realität ab?

Die neue Ausstellung in der Pariser Fondation Cartier ging von dieser Frage aus. Acht international bekannte Mathematiker und ebenso viele Künstler schufen, meistens zu zweit, Rauminstallationen zu unterschiedlichen Themen der aktuellen Forschung. Nebenkurator ist der Mathematiker Jean-Pierre Bourguignon, Direktor des Institut des hautes études scientifiques bei Paris.

Einen Hauptanteil bestritt in der Ausstellung das Duo aus David Lynch und dem russischen Mathematiker Misha Gromov. Für die von Gromov zusammengestellte "Bibliothek der Mysterien" hat Lynch eine runde Säulenhalle gebaut. Vorn schwirren wie Kometen die dreißig ausgewählten mathematischen Essentials von Heraklits "Fragmenten" bis Alan Turings "Computing Machinery and Intelligence" mit Zitatauszügen über die Leinwand. Darüber spannt sich ein hierarchisch geordnetes Filmbildgewölbe mit Objekten vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Großen, zu einer von Lynch komponierten Sphärenharmonie und einem von Patti Smith gesprochenen Textauszug des englischen Dichters Swinburne. Im Kamin knistert ein "mathematisches Feuer", auch das eine Lynch-Installation. Verträumte Kontemplation wohnt hier unmittelbar neben dem Schauer, der einen Blaise Pascal beim Nachdenken über die Unendlichkeit des Weltalls erfasste.

Kunstausstellungen mit mathematischem Themenakzent oder mathematische Problemstellungen mit Seitenblick auf die Kunst hat es schon viele gegeben. Die Fondation Cartier, die ihrem üblichen Präsentationsprinzip auch in dieser Schau treu blieb - viel Raum für wenige Werke, keine didaktische Überlastung, keine anbiedernden Spaßobjekte - beschritt neue Wege, indem sie den gezielt ausgewählten Künstlern und Mathematikern die Möglichkeit gab, einander über zwei Jahre hinweg zu treffen. Das hat in manchen Fällen zu erstaunlichen Ergebnissen, in anderen zu gar nichts geführt.

Wellen und Wasser

Im Mittelpunkt standen Phänomene, bei denen der Künstler- und der Mathematikerblick sich gegenseitig inspirieren, wie im Schillern einer Pfauenfeder, in der Wellenbewegung des Wassers. In einer Filmaufnahme zeichnet die Hand des Mathematikers Cédric Villani Quadrate und Dreiecke auf eine Tafel, die die brasilianische Künstlerin Beatriz Milhazes auf einem Wandbild in die Zauberwelt von Urwald und Papageienflug übersetzt hat.

Nicht alle Werke sind überzeugend. Der eingangs erwähnten Pseudo-Sphäre von Sugimoto fällt im viel zu niedrigen Raum die Decke auf den Trichterkopf. Ein großformatiges Wanddiagramm von Alberola zum Werk des Mathematikers Henri Poincaré kommt über vage Andeutung nicht hinaus. Manche Exponate erscheinen beliebig. Die Schau lebt aber vom Gelingen und Misslingen der Einzelbegegnungen.

So ließ der französische Dokumentarfilmer Raymond Depardon mit der Fixkamera großformatig alle acht Mathematiker der Reihe nach frei ins Objektiv sprechen. Bald strahlen da die Assoziationsbilder, bald poltern die Formeln. Der Mathematiker sei kein schaffender Künstler, sondern nur ein Auskundschafter von bestehender Realität, sagt der am Max-Planck-Institut in Bonn arbeitende Don Zagier in der Filmsequenz: Seine Individualität komme aber darin zum Ausdruck, wie er auf persönlichen Umwegen zur Lösung eines Problems gelange, so dass man von manchen Mathematikern nachträglich sage, die Problemlösung trage ganz die Züge ihrer spezifischen Subjektivität. Dass dieser schöpferische Aspekt der Mathematik in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werde, ist die Sorge von Jean-Pierre Bourguignon. Mathematik gelte als nützliche, aber tote Materie, bedauert er.

Im Gegenüber von mathematischer und künstlerischer Abstraktion ist in der Fondation Cartier ein Experiment gelungen, bei dem keine Seite per Analogieschluss nur zur Erklärungshilfe der anderen herbeizitiert wird. Für Mathematik- wie Kunstbanausen ist in der Ausstellung gleichermaßen gesorgt. Beide werden dazu eingeladen, nicht mehr ganz so selbstsicher auf ihr jeweiliges Unwissen zu vertrauen.

"Mathématiques - un dépaysement soudain". Fondation Cartier, Paris. Bis 18. März 2012. Der Katalog kostet 44 Euro.

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