Coronavirus in Frankreich:Die leblose, lautlose Stadt

Coronavirus in Frankreich: "Nicht einmal Zeit, sich abzuschminken": Ein Mann überquert die Place du Trocadéro in Paris, im Hintergrund der Eifelturm.

"Nicht einmal Zeit, sich abzuschminken": Ein Mann überquert die Place du Trocadéro in Paris, im Hintergrund der Eifelturm.

(Foto: AP)

In Paris kann man jetzt Kreuzungen diagonal überqueren, Obdachlose freuen sich über den vielen Platz und Busfahrer vermissen den Stau: Rundgang durch eine Stadt, die gewohnt ist, aus allen Nähten zu platzen.

Von Joseph Hanimann, Paris

Das letzte Mal, dass Paris quirlig Paris spielte, war der erste Wahlsonntag für die Kommunalwahl am 15. März. Wobei: auch damals schon mit Zweimeterabstand und Desinfizierungsflakon neben der Wahlurne. Am Tag danach verkündete Staatspräsident Macron eine Ausgangsbeschränkung für alle, die nicht zur Arbeit gehen, mit maximal einer Stunde Ausgang pro Tag. Und auch dafür muss jeder eine Bescheinigung vorweisen können mit einem plausiblen Zweck seines Ausgangs, sonst kostet es 135 Euro. 15 Millionen Kontrollen sind laut Ministerium bisher im Land schon vorgenommen und 900 000 Strafen verhängt worden. Die Polizisten, die unlängst noch zum Schutz vor Terroristen bewaffnet auf Bahnhöfen und Plätzen ihre Runden drehten, prüfen nun die Bürger auf Passierscheine. So schleicht sich Paris lautlos und ziemlich leblos durch diesen prächtigen Sonnenfrühling.

Wie Kinos, Museen, Bistros und die meisten Ämter sind auch alle Parks geschlossen. Tauben kleckern die kaum mehr gereinigten Trottoirs voll, hungrige Enten würgen auf den leeren Avenuen an hart gewordenen Brotkrusten, und von den Wahltafeln blättern die Plakate ab. Der zweite Wahlgang ist ohne Datum vertagt. Die Demokratie verharrt im Schwebezustand, und die Stadt hatte nicht einmal Zeit, sich ganz abzuschminken. Zu schnell wurde sie aus dem Alltag gerissen und ist im "confinement" erstarrt. Paris: ein anderes Pompeji?

Nun platzt die Stadt, die auf ihren Boulevards und in den Cafés einst gegen das Understatement der Londoner Privacy die städtische Öffentlichkeit erfand, aus allen Nähten der in zu enge Wohnungen gepferchten Häuslichkeit. Abgesehen von den angeblich zehn Prozent Parisern, die sich gleich zu Beginn der Krise aufs Land oder ans Meer zurückgezogen haben und dort von der Bevölkerung als unwillkommene "Parigots" schräg angeschaut werden, brodelt das Leben heute in den zum Büro umfunktionierten Wohnstuben, chaotischen Kinderzimmern, lärmenden Innenhöfen. Und es quillt von dort, je ärmlicher das Viertel, desto stärker nach draußen. In den nördlichen Vorstädten glimmt schon wieder die Lunte des sozialen Benachteiligungsfrusts. Die Lebensenergie einer mit Fernunterricht nicht zu bändigenden Jugend lässt sich auf Dauer nicht in die Treppenhäuser der Wohnriegel einsperren. Verschärfte Kontrollen einer nervös gewordenen Polizei waren die logische Folge, bis vor einer Woche bei einer Polizeiaktion in Villeneuve-la-Garenne ein junger Mann verletzt wurde. Seither brennen wieder Autos und fliegen die Steine.

Macron lobt Busfahrer regelmäßig als neue "Helden"

Weniger steil zeigt sich das Sozialgefälle innerhalb der Stadtgrenzen. Es lässt sich dort im Stadtbus abfahren. Etwa auf der Linie 27. Von der Porte d'Ivry am Pariser Südostrand führt sie über die Place d'Italie, am Jardin du Luxembourg vorbei, den Boulevard Saint-Michel hinab über den Seine-Quai durch den Louvre und die Avenue de l'Opéra hoch bis zum Bahnhof Saint-Lazare. Busse und Métros verkehren im gespenstisch wirkenden Paris zuverlässig, wenn auch weitgehend leer, von frühmorgens bis spätabends. Die Fahrer werden von Emmanuel Macron neben den Ärzten, Pflegern und einigen anderen regelmäßig als neue "Helden" gelobt. Die wie Sträflinge im Siebenundzwanziger-Bus weit auseinander sitzenden Passagiere aus den Randquartieren - eine verschleierte Hausfrau mit Mundschutz und Einkaufswagen, die dem Fahrer beim Aussteigen ein freundliches "Au revoir" zuruft, zwei Männer aus dem afrikanischen Migrantenheim, ein Müßiggänger offensichtlich ohne klares Ziel - sind noch vor der Place d'Italie alle verschwunden. Vom Louvre an steigt niemand mehr ein oder aus. Ja, bestätigt Jean-Marc, der Fahrer: In den vornehmeren Innenquartieren gebe es so gut wie keine Passagiere mehr - kein Bedarf, kein Vertrauen, kein Bock. Ist dieses Geisterfahren durch die Kulissenstadt nicht etwas langweilig? Ein bisschen sehne er sich schon wieder nach Stau und Gehupe, gibt der Fahrer zu.

Spaziergang durch Paris- Corona

Impressionen aus dem leeren Paris: Jeff Koons' zwölf Meter hoher "Tulpenstrauß" beim Petit Palais ist weiträumig abgesperrt.

(Foto: Joseph Hanimann)

Neben dem Luxusgefühl, sich ganz allein im großen Gelenkbus über die Boulevards kutschieren zu lassen, gibt es auch noch viele andere neuartige Erfahrungen. Große Kreuzungen diagonal überqueren, Verkehrsampeln systematisch missachten, mitten auf der Straße Hans-guck-in-die-Luft spielen. Ganz neue Sichtperspektiven auf die Stadt tun sich auf, den Hausfassaden entlang nach oben, wo über dem Haussmann'schen Belle-Époque-Schnörkel manchen Urbanisten zufolge die Raumreserven für künftige Stadtverdichtung liegen. Ob das wirklich eine so gute Idee ist, müsste man sich nach dieser Corona-Zäsur vielleicht noch einmal überlegen. Überhaupt verleitet die gegenwärtige Situation dazu, die Stadt nicht mehr nur als Lebensraum und Kulisse wahrzunehmen, sondern als Werkzeug oder Spielzeug mit plötzlich ganz neuer Gebrauchsanweisung. In der Stille des sonst donnernden Boulevard Raspail unterhält man sich nachbarlich über die Straße hinweg von Fenster zu Fenster. Das Straßenmobiliar an der Bastille wird von Home-Office-Sklaven mit steifen Gliedern als Turnstange benützt. Was sonst in der Menge zum Stehenbleiben, Nahetreten, Verweilen im erstbesten Café verlockt, drängt plötzlich zum Abstandnehmen und fortwährenden Weitergehen.

Sacré-Cœur ist plötzlich ein touristenfreier Aussichtsort

"Sie dürfen hier nicht bleiben, sonst muss ich Ihnen einen Strafzettel ausstellen", ermahnt der Polizist oben auf dem Montmartre vor dem Sacré-Cœur eine Familie mit zwei Kindern, die sich zum Genießen der Aussicht auf die Stufen gesetzt hat. Auch die anderen Spaziergänger, die sich dem Reiz des nun touristenfreien Aussichtorts hingeben, bekommen da plötzlich Beine. Jedes entspannte Innehalten selbst auf einer Bank wirkt fortan suspekt.

Nur eine Kategorie von Stadtbewohnern hat zumindest diese Sorge nicht, dafür aber viele andere. Die Obdachlosen, Migranten und Clochards sind ungewollt der ruhende Pol in der Stadt. Wo sie sich nicht noch resignierter ihrem Schicksal hingeben, betteln sie aktiver die seltenen Passanten an. Die meisten Suppenküchen, Notunterkünfte und sonstigen Anlaufstellen sind geschlossen. Für besondere Härtefälle wird in Turnhallen ein Minimalangebot an Essen, Wasch- und Schlafgelegenheit bereitgestellt. Die Pandemie macht diese Bevölkerung im Stadtbild stärker sichtbar, hat deren Lage aber nicht grundlegend verändert. "Covid-19 dürfte kaum sein Hauptproblem sein", murmelt ein Pfleger beim Abtransport eines hustenden und geschwächten Mannes von der Straße.

Jonathan lebt seit 15 Jahren auf der Straße und freut sich über den vielen Platz, den er plötzlich hat

Selbst unter diesen Leuten gibt es aber erhebliche Unterschiede. "Wir waren doch immer schon draußen eingeschlossen", winkt der junge Mann ab, der neben seinem Hund auf dem Trottoir des Boulevard Saint-Germain sitzt und sein Laptop am Außenstecker des Modegeschäfts Paule Ka angeschlossen hat. Sein Name ist Jonathan, er ist vor fünfzehn Jahren aus der Auvergne nach Paris gekommen und lebt seither auf der Straße. Berufstätigkeiten als Karossier, Servierer, Pizzaausträger hat er eine nach der anderen aufgegeben. Auf seinem Computer verbreitet er sich per Facebook über ein freies Leben im Einklang mit der Natur und freut sich im Moment gerade über den vielen Platz, den er in Paris plötzlich hat. Normalerweise würde er um diese Tageszeit draußen am Stadtrand sitzen, erklärt dieser junge Clochard vom alten Schlag, doch nun genieße er mitten im Literatenviertel die Stille und die saubere Luft. "Schade nur, dass die Leute mit ihrem Mundschutz noch teilnahmsloser vorbeihuschen. Wie Comicfiguren, die ihre Sprechblasen verschluckt haben."

Literatenviertel? Aragon, Jouhandeau, Hemingway - das war einmal. Zwar werben Straßenplakate überall für Leïla Slimanis in keiner Buchhandlung mehr zu kaufenden neuen Roman. In manchen Vitrinen verstauben aber die Auslagen mit Boris Vian, als wäre seit dem 10. März weiterhin täglich sein hundertster Geburtstag zu feiern. Noch trauriger steht es um die Cafés littéraires zwischen Saint-Germain-des-Prés und Montparnasse. Überall ist dauerhaft aufgestuhlt. Das "Deux Magots", wo laut dem einstigen literarischen Spaziergänger Léon-Paul Fargue jeder Kunde in seinem Tischnachbarn einen Literaten vermutet und wo fastreiche, fastschöne Amerikanerinnen die letzten Surrealisten angähnen, deren Renommee zwar nicht bis auf die andere Straßenseite, wohl aber über den Atlantik gelangt ist, wirkt wie von allen Geistern verlassen.

Spaziergang durch Paris- Corona

An jeder Bushaltestelle fordern die Behörden dazu auf, doch besser zu Hause zu bleiben.

(Foto: Joseph Hanimann)

Umso hohler klingen die Klischees und Parolen, mit denen die Stadt in den Konsumparadiesen um die Aufmerksamkeit der nicht vorhandenen Käufer giert. Das "Parle-moi d'amour" über der abgedunkelten Vitrine der Galeries Lafayette auf dem Boulevard Haussmann klingt wie ein Abgesang auf ein beinah schon vergessenes Glück. Viele Modeläden der schicken Avenue Montaigne sind mit Holzverschalungen abgesperrt oder innen leer geräumt. Und zu allem Überfluss kam nun auch noch die Kunde, im Wasser der - nicht mehr sprudelnden - Stadtbrunnen seien Spuren des Covid-19 gefunden worden. Keine Sorge, heißt es von Seiten der Stadtregierung, das Trinkwasser sei einwandfrei, das komme aus anderen Leitungen. Nur muss die Nassreinigung der Straßen zunächst wohl eingestellt werden. Tauben und Ratten wird es nicht stören.

Der zwölf Meter hohe "Tulpenstrauß", der etwas abseits der Champs-Élysées mitsamt der ihn darbietenden Hand aus der Erde emporwächst, braucht nicht begossen werden. Der Künstler Jeff Koons hat diese Skulptur der Stadt Paris nach den Terroranschlägen von 2015 als Zeichen der Solidarität geschenkt. Nach langem Streit, ob man das Ding überhaupt wolle, und wo, ist das Monument im vergangenen Herbst neben dem Petit Palais eingeweiht worden. Das Gelände drum herum bleibt aber weiträumig abgesperrt, weil die Bauarbeiten ausgesetzt sind. Weit und breit also kein Bewunderer des Werks. Dafür aber die bange Frage: Welcher Künstler wird der Stadt nach dieser Krise den nächsten Blumenstrauß reichen?

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