Serie "Lokalrunde":Liebe und allgemeine Verachtung

Lieblingskneipe

Bis die Stammkneipe wieder aufmacht, dauert es wohl noch ein wenig. Bis dahin erzählen Schriftstellerinnen und Schriftsteller von ihrer Lieblingsbar.

(Foto: Steffen Mackert)

Die Paris Bar ist Schauplatz eines Familientreffens - es gibt den kauzigen Onkel, die angeheiterte Tante und den zugekoksten Neffen. Aber wie das bei Familien so ist: Lieben kann man nicht alle.

Gastbeitrag von Eva Sichelschmidt

Die kleine Kneipe am Ende der Straße hat zu. Sie fehlt, so wie Bars, Restaurants, die gesamte Gastronomie, Gespräche, Flirts, letzte Drinks. Zur Überbrückung haben wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller um Geschichten über ihre Lieblingslokale gebeten.

Es ist Liebe, keine Übertreibung. Ich verwende das große Wort nicht leichtfertig, nichts anderes trifft es. Die Paris Bar ist meine Liebe, die größte, die einzige, die ich je zu einer gastronomischen Bühne empfand.

Die Liebe zur Kunst, die Liebe zum Wandel, der hier ausnahmsweise einmal keine Schäden angerichtete. Liebe zur Zeit, die aus der Nikotinschwaden vergilbten Wandfarbe strahlt, wie aus der Bügelstärke der blütenweißen, einzigartig steifen Servietten. Liebe zum Leichtsinn, der pfeifend an Sommertagen unter den hochgeschobenen Fenstern (man kennt das aus Frankreich) eine beschwipste Runde über die Kant D'Azur dreht und sich pünktlich zum zweiten Coup wieder an den grünen Bistrot-Tischen niederlässt.

In den milden Nächten ist "auf der Terrasse" jeder Sitzplatz mit Schönheit, Geld und Aufschneiderei belegt. Dann ist auch der Gastraum von tosendem Volksgemurmel erfüllt. Wenn der schwankende Galerist unter den Augen des BILD-Kolumnisten die Jukebox traktiert, erzeugen die verstaubten Singles vergangener Tage laute Schreiorgien.

Mit der Zeit sind aus den Stammgästen und den Kellnern Familienmitglieder geworden

Ein Rosenverkäufer bietet seine Totenkopfblumen feil und niemand greift zu. Vor der Tür warten Reisende aus der westdeutschen Provinz, ihr schweres Gepäck auf dem Rücken, geduldig auf Einlass. Nach Prosecco, den es hier nicht gibt, steht ihnen der Sinn. Sie werden von dem barfüßigen, säuerlich riechenden Mann mit dem Filzhaar im Vorbeigehen um Kleingeld gebeten. Nennen wir ihn an dieser Stelle, im Zentrum Berlins, einem romantischen Impuls folgend, Clochard. Die Touristen werfen ihm die Münzen in die Hand, aus weiter Entfernung, er soll sich verziehen. Und ab geht's mit diesem Grüppchen in die hinterletzte Ecke des Restaurants. Der Kellner verfrachtet sie nach "Sibirien". Die Cola wird ihnen stilgerecht in kleinen Glasflaschen serviert. Haltung, wer sie noch nicht hatte, dem wird sie mit der zusammengefalteten Rechnung am Ende des Abends auf kleinen runden Silbertellern serviert - man muss sie annehmen.

Die Paris Bar ist ein Ort der Liebe und der allgemein Verachtung, das Löschpapier liegt direkt neben der Tinte. Hier ruft der Gast den Kellner beim Vornamen, und der verhält sich neutral. Bis mancher es nach Jahren der Treue geschafft hat, dann wird ihm sein Name mit dem Wintermantel zur Begrüßung an den Garderobenständer gehängt.

Mit der Zeit sind aus den Stammgästen und den Kellnern Familienmitglieder geworden - aber wie es in Familien so zugeht, lieben kann man nicht alle. Auf der Eckbank vor den Toiletten sitzt der kauzige Onkel hinter seiner Zeitung und murmelt Unverständliches. Reflexhaft klopft er der jungen Dame auf den Hintern, die sich auf ihren zwölf Zentimeter Absätzen den Weg durch die Menge bahnt. Anmutige Hetären stellen ihm später auf dem Weg zum Ausgang ein Bein.

Die angeheiterte Tante hält sich seit Stunden krampfhaft an der Messingumrandung ihres Tischchens fest, mit flackernden Lidern. Dem schönen Barmann gegen zwei Uhr, zur Schließzeit, den Rücken zu massieren, ist seit neun schon ihr einziges Ziel. Der verkokste Neffe hat Liebeskummer und beschimpft aus einer Amphetaminlaune heraus unflätig die älteren Damen am Nachbartisch. Und wird sogleich von ihnen getröstet: "Mach dir nichts draus, Lisa liebt dich. Sie kommt bald wieder zu dir zurück."

Die Kunst schaut den Gästen geduldig beim Trinken zu

Ein Königspudel betritt majestätisch den Raum, erhascht die Reste eines Boeuf Bourguignon und rollt sich anmutig zusammen. Vornehm schmatzt er unter der ledergepolsterten Sitzbank. Der alkoholisierte Sänger, ein in die Jahre gekommener Mime, stimmt an der Bar den Gefangenenchor aus Nabucco an und wird bis zum zweiten Refrain von den Gästen "auf Schwarz" begleitet. "Auf Schwarz" sitzen die Leichtsinnigen, die Trinker, gleich vorn neben der Eingangstür. "Auf Weiß" hocken die gediegenen Gäste, die sich, vor dem zu erwartenden Absturz in die Volltrunkenheit, mit Messer und Gabel die Komandohöhe für einen ausufernden Abend verschaffen.

Die Kunst schaut den Gästen geduldig beim Trinken zu. Manche Kunstwerke an den Wänden sind vor Jahren einer Interims-Insolvenz zum Opfer gefallen. Martin Kippenberger zog aus und bezahlte lang nach seinem Tod noch die aufgelaufenen Schulden. Cosima von Bonin, Daniel Richter, Sarah Lucas, John Baldadssari, halten, neben vielen anderen und afrikanischen Plastiken, die Stellung. Und Nachschub gibt's immer, kein Zentimeter Wandfläche bleibt unbesetzt, und Bilder und Gäste kennen kein Früher und Heute, so lange der Laden läuft. Die Wände immer so voll wie die Gäste zum Zapfenstreich. Die Kunst hat die Qualität der Sauce Bernaise, sie bleibt nicht gleich und wird doch immer gleich konsumiert. Man braucht sie zu den Pommes Frittes, eher noch als das Steak. Erst wenn die Mittelgebirge der Korbstühle an einem vorbeigeschoben werden, und überm Kino Delphi die Sonne aufgeht, ist der Abend endgültig vorbei.

Theatertreffen, Berlinale und Galerierundgang, die Paris Bar ist nicht nur Treffpunkt der graumelierten, kunstseidenen Männlein, sondern bisweilen das Epizentrum der Kulturschaffenden aller Länder. Längst ist der Ort auch wieder unter Youngstern beliebt. Authentizität, die ausgelutschte Marke bekommt hier einen ganz eigenen Wert von mindestens zwei Promille.

Kein Ort in der Stadt, der dem Pappmaché ringsum mehr Trotz bieten würde

Seit einer ganzen Weile übernehmen die Arties mit ihren glitzernden Schuhen und den grafischen Frisuren den Tresen zum "Gallery Weekend". Artig weichen sie dem betagten Gast, der sich an Otto Sanders Stammplatz am Ausschank breitmacht. Otto Sanders Messingplakette, liebevoll poliert, zeugt von den tollsten Jahren. Einer Zeit, nicht vergessen, nicht verschüttet, so sehnsuchtsnah wie die Liebe zu diesem Ort.

Am Silvester ist die Paris Bar stets der finale Ankerplatz gewesen. Hier landete man in den Morgenstunden, wenn die Nacht schon fast ausgeschöpft, jeder Drink woanders der letzte war und kein Tanz mehr ging. Hier lockte der letzte Absacker kurz vor der endgültigen Kapitulation an die barmherzigste Theke der Stadt.

Bei der Jahreswende 2020 musste ich passen. Ich habe gehört, das Silvesterfest soll auch hier etwas mau gewesen sein. Dabei war doch seit Monaten so verheißungsvoll von den goldenen Zwanzigern die Rede gewesen: Babylon Berlin. Wo wenn nicht hier, hätte man einer zeitlosen Nostalgie nachhängen können, der Vorstellung von einem zart puckernden Vulkan im Rien ne va plus der Zeiten? Kein Ort in der Stadt, der dem Pappmaché ringsum, der immer neuen Neuauflage internationaler Restaurantketten, oder der eben gerade angesagten "Moka Efti Bar" mehr Trotz bieten würde. Die Einsamkeit des Paris Bar Liebhabers wächst damit ins Grenzenlose.

Was wird bleiben, nachdem am 20. März in den frühen Abendstunden die schöne Eingangstür für unbestimmte Zeit geschlossen wurde, ein unheimliches Virus nicht nur diesem Spaß ein Ende bereitete? Ich hoffe auf das Überleben, auf die Wiedereröffnung dieses Ortes der Küsse, wo man sich in die Arme fiel, in fremdem Haar versank, aus fremden Gläsern trank.

Und ich denke heute schon an den nächsten Abend mit dem Mann, den man den Wirt nennen könnte, Michel Würthle - selber Künstler, einer der besten Zeichner, nicht nur dieser Stadt. Demnächst werden wir alle wieder beisammensitzen, nicht wahr? Wir werden uns verstehen, wie immer wortlos. Und wenn ich auch die anderen um mich herum nicht verstehe, und sie mich nicht verstehen, nicht mal Michel, weil es laut ist und heiß in der Paris Bar - egal. Madame, Monsieur, Merci, ein Coup auf vier... Ich kann es kaum erwarten. Der Schuppen wird brummen. Michel wird eine Weißweinschorle ohne Wein trinken, nie mehr rauchen und sein Nussknackerlachen aufblitzen lassen - und ich werde wieder wissen: Es ist Liebe.

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