Paranoider Hass: Ernst August Wagner, 1913:"Bestellt mich zum Exekutor"

Die männliche Angst vor Kontrollverlust und Impotenz schlug bereits vor knapp hundert Jahren in apokalyptisch begründete Gewalt um. Als "Mörder von Mühlhausen" dachte der schwäbische Lehrer Ernst August Wagner im Jahr 1913 in erstaunlich ähnlichen Kategorien wie Anders Breivik.

Philipp Blom

Wahn kann rational, sehr methodisch und stringent argumentiert sein. Er formuliert seine Ideen durch die Sprache seiner eigenen Kultur, durch die Ängste seiner eigenen Zeit. Im paranoiden Denken des Massenmörders Anders Breivik sind Muster erkennbar, die anders und doch verwandt in einem Parallelfall aus dem Jahr 1913 auftauchen. Damals war es der Lehrer Ernst August Wagner, der im Kaiserreich als "Mörder von Mühlhausen" traurige Berühmtheit erlangte - und als prototypische Figur in Hermann Hesses Erzählung "Klein und Wagner" aus dem Jahr 1919 einging.

Paranoider Hass: Ernst August Wagner, 1913: Ernst August Wagner (hier auf einer Zeichnung) erlangte im Jahr 1913 traurige Berühmtheit - als "Mörder von Mühlhausen".

Ernst August Wagner (hier auf einer Zeichnung) erlangte im Jahr 1913 traurige Berühmtheit - als "Mörder von Mühlhausen".

(Foto: dpa)

Am 4. September 1913 war Wagner, schwäbischer Dorfschuldirektor aus Degerloch bei Stuttgart und hoffnungsvoller Autor mehrerer Versdramen, früh wie jeden Morgen aufgestanden, hatte einen Knüppel und ein Messer genommen und seine Frau und vier Kinder getötet. Dann bestellte er drei Liter Milch für den folgenden Tag und machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Stuttgarter Bahnhof und von dort aus mit Zwischenhalten nach Mühlhausen an der Enz.

Auf dem Weg gab er einige Briefe auf und besuchte die Familie seines Bruders. Sein kleiner Neffe zeigte ihm den neuen Kaninchenstall. Dann fuhr Wagner weiter. In Mühlhausen angekommen zündete er vier Häuser an, holte zwei Mauser-Pistolen aus seiner Reisetasche und schoss auf alle Männer, die er auf der Straße sah. Sieben von ihnen und ein zehnjähriges Mädchen wurden tödlich getroffen und zwölf weitere Männer verwundet, bevor ein Polizist ihn überwältigte. Ein weiterer Mann erlag Stunden später seinen Verletzungen.

Wagner war ruhig nach seiner Tat und zeigte keine Reue. Er hatte getan, was getan werden musste. Eine große Apokalypse stehe bevor, warnte er in den Briefen, die er vor seiner Tat verschickt hatte, ein kultureller Endkampf. Seine Familie hatte er aus Mitleid umgebracht um ihnen die Konsequenzen seiner Tat und die kommenden Schrecken zu ersparen. Er wollte ein Zeichen setzen. Sein ursprünglicher Plan war gewesen, alle Männer in Mühlhausen zu ermorden: "Ich werde Würgengel sein". Dann beschrieb er seinen Traum, danach Schloss Ludwigsburg zu stürmen: "Ich töte. Ins Schloss. Ich töte. Ich brenne und verbrenne [...\]. Und ich selbst kann mich dann in der Herzogin Bett verbrennen."

Ideologisch aufgerüstet

Wagner hatte sich jahrelang unbemerkt auf seine Tat vorbereitet. Er hatte Waffen und Munition gekauft, Schießübungen im Wald gemacht, hatte Ziel und Zeitpunkt geplant: im September, am Ende der Sommerferien. Vielleicht wollte er als gewissenhafter Beamter keinen Arbeitstag versäumen. Auch ideologisch hatte er aufgerüstet. In seinem Haus fand die Polizei Hunderte von Büchern, darunter Werke von Maxim Gorki, Ernst Haeckel, Hendrik Ibsen und Friedrich Nietzsche, sowie ein von ihm selbst verfasstes Drama über Kaiser Nero. Seine Bekennerbriefe trugen die Überschrift: An mein Volk.

Der Psychiater Robert Gaupp wurde hinzugezogen - um zu entscheiden, ob der Oberlehrer zum Tode verurteilt werden könne. Er befand auf Schuldunfähigkeit und machte den Fall Wagner zum wichtigsten seiner Karriere, untersuchte den Patienten über viele Jahre. Als er ihn das erste Mal getroffen hatte, war er fast enttäuscht, wie er später gestand: "Ein ernster, gramgebeugter Mann trat mir entgegen, höflich, bereit, sich in alles zu fügen, in seinem ganzen Benehmen ein gebildeter Mensch."

Der gebildete Mörder hatte klare Gründe für seine Taten, wie Gaupp zu seinem Erstaunen fand. Im Zeitalter der Eugenik und der explodierenden Urbanisierung hatte Wagner geschrieben: "Es ist des Volks viel zu viel, die Hälfte sollte man gleich totgeschlagen. Sie ist das Futter nicht wert, weil sie schlechten Leibs ist. Von allen Erzeugnissen des Menschen ist ausgerechnet der Mensch das schlechteste."

Wagners Abscheu gegen die Menschheit bestimmte sein gesamtes Weltbild: "Überall aber täte eine große Sanierung der Menschheit not . . . Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor . . . 25 Millionen Deutsche nehme ich auf mein Gewissen..."

Sexuelle Phantasien von ungeheurer Brutalität

Gaupp erkannte, dass der pathologische Weltekel seines Patienten eine sexuelle Wurzel hatte, dass es dessen verleugnete Homosexualität war, die ihn mit zum Mörder gemacht hatte. "Dass ich mich des Geständnisses gleich entledige: Ich bin Sodomit," hatte Wagner geschrieben. "Selbstverachtung und Gram haben mich grau gemacht, denn ich bin erst 34 Jahre alt."

Gleichzeitig waren die sexuellen Phantasien des schwäbischen Schulmeisters von ungeheurer Brutalität: "Ich wünsche ein Riese zu sein mit Größe und Stärke der Weltallmasse. Einen glühenden Pfahl wollte ich dann nehmen und ihn der Erde in den Leib bohren. Und Pol zu Pol, von der Erde Scheitel bis zur Sohle wollte ich ihn durchtreiben," protokollierte er seine Träume.

Der Psychiater Gaupp identifizierte biografische Gründe für die ambivalente Sexualität seines Patienten, dessen Vater gestorben war, als das Kind zwei Jahre alt gewesen war. Danach hatte die Mutter verschiedene, unstete Liebhaber gehabt, sich wahrscheinlich auch gelegentlich prostituiert und zu trinken begonnen. Der Sohn, ein sensibles Kind, konnte das Verhalten nicht ertragen. "Das Geschlechtliche" wurde zum Urbild alles Unreinen und Bösen.

Die Sexualisierung von Wagners Phantasien ist auch symptomatisch für eine Zeit, in der das Geschlechterverhältnis öffentlich zum Thema geworden war wie nie zuvor. Feministinnen forderten öffentlich Wahlrecht und effektive Geburtenkontrolle und machten mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam.

Arbeiterinnen in Fabriken und Studentinnen an den Universitäten veränderten das Frauenbild, Zeitungen und Zeitschriften warben diskret für "künstlerische Aktfotos" und für die neuen Kondome aus vulkanisiertem Gummi. Die Prostitution blühte in den großen Städten.

Angst der Männer um ihre Männlichkeit

Dieser Entwicklung gegenübergestellt war die Angst der Männer um ihre Männlichkeit. Mehr Duelle wurden ausgefochten als je zuvor, das was Wagner in seinem Manifest "die totenkopfgezeichnete neurasthenische Reiterei" bezeichnete. Männer (und Frauen), die in der Gesellschaft nicht mehr funktionieren konnten, in Sanatorien und bei Ärzten Zuflucht suchten, wurden zum Tagesthema. Frauen drängten sich nach vorn, Männer versagten, so schien es.

Wagners paranoider Hass auf Frauen und Sexualität und seine apokalyptischen Ideen haben starke Parallelen mit den Denkfiguren Breiviks. Breiviks Konstrukt der "Kulturmarxisten" erinnert an die liberalen, urbanisierten Eliten, die Wagner als guter Schüler Rousseaus für den Niedergang des Westens verantwortlich machte, und auch die Angst vor starken Frauen wird von beiden geteilt.

Anders Breivik schreibt in seinem Manifest über die "Feminisierung der Männer in Europa" als Konsequenz "institutionalisierter Manipulation" von Frauenseite, deren feministische, sexuell emanzipierte Lebensweise den konservativen Christen abstößt. Wagner verglich sich selbst mit Christus und sah sich am Kreuz, zugleich Schmerzensmann und Erlöser.

Wenn auch die Requisiten ausgewechselt sind, so bleibt doch das paranoide Spiel dasselbe. Ob Nietzsche oder nationalistische Blogger, Haeckel oder Huntington, liberale Eliten oder "Kulturmarxisten", moslemische Migranten oder die Flut der "Minderwertigen" überhaupt, ob Mannweiber oder Feministinnen - die Strukturen des Hasses sind die gleichen geblieben. Der allem unterliegende Antrieb in beiden Fällen, so scheint es, ist eine männliche Angst vor Kontrollverlust, vor Impotenz, die in apokalyptisch begründete Gewalt umschlägt und die ihre Bilder und Argumente aus ihrer Umgebung nimmt; fast eine chemische Reaktion von Denken und Umwelt.

Ernst Wagner lebte noch 25 Jahre im psychiatrischen Krankenhaus Winnenden. Er korrespondierte mit Schriftstellern und Gelehrten und schrieb Dramen, darunter eines über König Ludwig II. In seinen letzten Jahren schien er Schuldeinsicht in seine Tat zu haben. Er starb 1938 - kurz bevor die Nationalsozialisten die restlichen Patienten der Klinik als "lebensunwertes Leben" abtransportierten.

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