Filmfestival Venedig 2021: Start mit Almodóvar:Schatten der Vergangenheit
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Mit "Parallele Mütter" eröffnet Pedro Almodóvar das Filmfestival von Venedig. Wie so oft geht es um die Kämpfe der Frauen - aber diesmal reichen sie bis tief in die Geschichte Spaniens.
Von Susan Vahabzadeh
Hier prallen schon architektonisch unterschiedliche Welten aufeinander. Auf dem Weg zum Festivalgelände am Lido künden prächtige Bauten von der Frühzeit des Strandurlaubs, dahinter ragen die Türmchen des Hotel Excelsior in den Himmel, der Palast selbst ist ein Überbleibsel des Faschismus, und ganz vorn glänzt das neueste unter den Biennale-Kinos, die Sala Giardino, knallrot und rotzfrech in der Sonne. Kann man Gegensätze, unterschiedliche Epochen miteinander versöhnen, einfach nebeneinanderstellen? Im neuen Film des spanischen Filmemachers Pedro Almodóvar, mit dem die 78. Filmfestspiele von Venedig eröffnet wurden, sieht es etwas anders aus - heilen kann da nur, was ans Licht gezerrt wurde, benannt und verarbeitet. Die Geschichte, das ist ein zentraler Satz in "Parallele Mütter", weigert sich, den Mund zu halten.
"Parallele Mütter" ist für das Festival ein würdiger Auftakt. Almodóvar findet sich zwar seit ein paar Filmen ins Älterwerden hinein, kann dem aber offenbar immer mehr abgewinnen - sein letzter alternder Held litt noch an Rückenschmerzen, aber in diesem Film fängt mit der Reife das Leben erst richtig an. Die beiden Mütter, die sich da in einem Krankenhauszimmer begegnen, sind beide alleinstehend, aber sie gehören unterschiedlichen Generationen an: Die Fotografin Janis (Penélope Cruz) glaubt, dass diese Schwangerschaft ihre letzte Chance ist, überhaupt ein Kind zu bekommen; Ana (Milena Smit) ist noch nicht einmal volljährig. Janis will unbedingt die Exhumierung eines Massengrabs aus dem spanischen Bürgerkrieg durchsetzen, in dem ihr Urgroßvater liegt, der von den Franquisten ermordet wurde.
Almodóvar, inzwischen 71 Jahre alt, ist als eine Art Botschafter des neuen Spaniens berühmt geworden, in seinen Filmen formen sich immer wieder bunt zusammengewürfelte urbane Familien. Aber er ist eben auch ein Kind der alten Franco-Zeit. Der Freiheitsdrang seiner Figuren hatte damit immer zu tun, schon als er mit "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" Ende der Achtzigerjahre das europäische Kino eroberte. Aber so klar benannt wie in "Parallele Mütter" hat er nie, dass seine Figuren nicht einfach liberal dahinleben, sondern dass hinter den manchmal schrillbunten Fassaden eine politische Haltung steht: In "Parallele Mütter" muss auf zwei Ebenen aufgeräumt werden - Janis fordert ein Geschichtsbewusstsein, eine Abgrenzung zum Franquismus. Aber sie kann auch kein persönliches Glück finden, wenn sie es auf Kosten einer anderen erzwungen hat.
Janis dämmert bald, dass ihr Baby vielleicht nicht ihr eigenes ist. Kann sie das einfach verschweigen? Sie müsste nur den Mund halten. Aber es steckt ein Unrecht darin, das sie nicht erträgt. In einem einzigen Bild fügt Almodóvar die Suche nach dem Massengrab und die ungeklärte Mutterschaft zusammen, wenn Janis mit zitternden Fingern die Nachricht eines Labortests auf ihrem Computer öffnet - eine Hügellandschaft sieht man da, und die Ordner auf dem Bildschirm sehen aus wie die Markierungen auf dem Bild eines Gräberfelds.
Die Figuren kommen einem aus dem almodovarianischen Universum bekannt vor, schon weil Schauspielerinnen dabei sind, die dort sozusagen dazugehören - außer Penélope Cruz auch Rossy de Palma als Elena, Janis' beste Freundin und beste Auftraggeberin. Aber die Geschichte entwickelt sich vielleicht doch ein bisschen anders, als man es von Almodóvar gewohnt ist. Kein Thriller im Hitchcock-Sinne, an dessen Ende eine fröhlich zusammengewürfelte Großfamilie steht - ein echtes Familiendrama, an dessen Ende alle Erben ihrer eigenen Familiengeschichte sind. Almodóvar, der einmal für den Zeitgeist stand wie kein anderer Filmemacher, entwickelt sich jetzt gegen den Strom. Alles wird immer schriller und schlichter, er aber erzählt langsamer und leiser und bedächtiger, Geschichten, an deren Ende es nie eine einfache Auflösung geben kann. Und das ist gut so.
Almodóvar ist auch schon vor der Premiere von "Parallele Mütter" mit dem Zeitgeist aneinandergerasselt. Zu seinen Eigenheiten gehört es, dass seine Geschichten und seine Bilder um Frauen kreisen - wie er es in "Volver" geschafft hat, ohne jede Anzüglichkeit von oben in Cruz' Dekolleté zu filmen, ist nachgerade legendär. Wenn nun auf dem Plakat zu "Parallele Mütter" eine Brustwarze mit einem Milchtropfen zu sehen ist, wäre es ziemlich blöd, das anstößig zu finden, selbst wenn einem Almodóvars persönlicher Mutterkult manchmal ein bisschen zu viel ist.
Es gibt eine Reibung zwischen den Zeiten und Generationen
Der Algorithmus, der bei Instagram an der Macht ist, macht solche feinen Unterschiede nicht und hat einen Post mit dem Plakat entfernt. Was dann prompt zu Protesten führte. Instagram hat sich bei Almodóvar entschuldigt, und er hat über das Twitter-Konto seines Bruders Agustín kommentiert, er habe sich zwar immer schon auf die Freundlichkeit von Fremden verlassen, aber eben auf Menschen und nicht auf Algorithmen. "Wie viel Informationen ein Algorithmus auch immer haben mag, er wird nie ein Herz haben oder gesunden Menschenverstand." Hätte jemand bei Instagram doch den Film gesehen - das Falschfinden ist kein Label, es ist eine begründete Haltung.
Es schwingt tatsächlich eine Reibung zwischen den Zeiten und Generationen mit in "Parallele Mütter". An Janis' Wand hängt ein Bild von ihr auf dem Arm ihrer Mutter, es sieht nach Hippiekolonie aus. Das war auf Ibiza, sagt sie, ihre Mutter habe sie nach Janis Joplin benannt. Ana weiß nicht, wer das war, darüber sieht Janis gnädig hinweg. Aber nicht über Anas nachgeplapperte Weisheiten, die Verbrechen der Franquisten nicht anzufassen. Weißt du eigentlich, brüllt Janis Ana einmal an, in welchem Land du lebst? Die Antwort wird sein, dass sie keine Ahnung hat. Aber man kann es ihr doch immerhin erklären.