"Udopium - geiles Wortspiel, ne?", sagt Udo Lindenberg und grinst. "Deutschland nimmt wohl eine neue Droge", erklärt er sich das, was um ihn herum gerade passiert.
Mit dem kurz vor seinem heutigen Geburtstag vorgelegten neuen Studioalbum "Stärker als die Zeit" rast Udo seit April mit Volldampf durch die Medienkanäle. In den Charts platzierte er sein drittes Nummer-Eins-Album, und er selbst glaubt, eine Rakete gefrühstückt zu haben, weil alles so "geilomatik" nach oben "zischt". Während die einen ihn zu Deutschlands einzigem wahren Rockstar ernennen, befassen sich andere mit dem Phänomen des Panikrockers. Warum ihn plötzlich (fast) alle lieben? "Weil ich geile Sachen mache", sagt er. Bild: Plattencover "Stärker als die Zeit" von Udo Lindenberg
Beliebt ist Lindenberg seit Jahrzehnten. Dass er etwas Besonderes ist, nimmt er von Geburt an für sich in Anspruch. Was sich an jenem 17. Mai 1946 im westfälischen Gronau ereignete, besang er einst so: "Ich fiel direkt vom Himmel auf ein D-D-Doppelkornfeld." Auch was danach geschah, verraten seine Lieder. Über seinen frühen Wunsch etwa, Enge und Tristesse zu entfliehen: "Eine Sache war für mich schon damals völlig klar: Wenn ich später groß bin, fahr' ich nach Amerika. Bestimmt warten die da schon auf meines Vaters attraktiven Sohn. Und dann werd' ich was Berühmtes und zu Hause hör'n sie alle davon." Denn früh war ihm schon bewusst: "Und wenn wir jetzt auch noch nicht wissen, wohin, unser Leben muss ganz anders laufen als stupide abrackern und sich abends vor der Glotze besaufen." Bild: Udo Lindenberg 2015 in Gronau, Westfalen, anlässlich der Einweihung eines Denkmales zu seinen Ehren
Er wollte sich nicht fragen müssen: "Wie komm' ich raus aus diesem Wartesaal mit tiefgefrorenen Träumen im Kühlschrank?" Die Frage legte er in dem Lied "Sie ist vierzig" auf dem Album "Panische Nächte" von 1977 einer Hausfrau in den Mund, die von ihrem gleichgültigen Ehemann und der kleinbürgerlichen Existenz frustriert ist. Um diesem Schicksal zu entgehen, heckte der Sohn des Installateurs Gustav und der Hausfrau Hermine schon frühe eine Art "Masterplan" bis ins Detail aus - getrieben vom Wunsch, "reich und berühmt" zu werden. Bild: Plattencover "Panische Nächte" (1977)
Seit Ende der Sechzigerjahre lebt Lindenberg bevorzugt in Hamburg. Dort war er in frühen Jahren Mitbewohner der legendären Wohngemeinschaft in der "Villa Kunterbunt", der auch Komiker Otto Waalkes und Rocker Marius Müller-Westernhagen und weitere Figuren der damaligen Hamburger Szene wie Günter Fink, Hans-Otto Mertens und Lonzo Westphal ("Der Teufelsgeiger von Eppendorf") angehörten. Zeitweise hatte die WG 14 Bewohner. "Wir waren lauter Jungs, die alle Stars werden wollten", sagte Lindenberg später über die Zeit. In der Villa Kunterbunt entstanden Musik und Texte, es wurden Bands wie die Rentnerband gegründet. Lindenberg und Waalkes befruchteten sich gegenseitig: Während der eine seine Liedfiguren Rudi Ratlos, Gerhard Gösebrecht und Bodo Ballermann ersann, dachte sich der andere die Blödelnummern mit Kommissar Kringel, Ebbe Ebbesen und Harry Hirsch aus, die inzwischen Kult sind. Udo Lindenberg (links) über Otto Waalkes (Mitte, bei einem gemeinsamen Auftritt 1979): "Er ist einfach ein Spruchmeister, er verstellt sich nicht."
Schon in der Villa Kunterbunt entwarf Lindenberg in Skizzen das Bild von dem Rock-Revolutionär, der er werden sollte: "Markante Silhouette mit enger Beinbekleidung, torkelnde Lindi-Choreografie und deutsche Texte. Strategie-Papiere für den Weg vom Gulli zum Gipfel." Diesem Image bleibt er treu. Was er damals mit den Stift skizzierte, tauchte so ähnlich noch 40 Jahre später auf dem Cover seines Albums "MTV Unplugged" (im Bild) von 2011 auf. Das Selbstbildnis zeigt ihn mit Hut und Sonnenbrille, ohne Kabel, aber mit locker gehaltener Fluppe.
Anfang der Siebzigerjahre wurde Udo bekannter. Mit Jazz-Größen wie Klaus Doldinger spielte er am Schlagzeug unter anderem die "Tatort"-Titelmelodie ein, die bis heute unverkennbar zur Fernsehserie gehört. Doch das reichte ihm nicht. Nachdem er Zweifel an der Tauglichkeit seiner Stimme überwunden hatte, trat er als Sänger ins Scheinwerferlicht. "Keine Panik auf der Titanic, jetzt trinken wir erst mal einen Rum mit Tee", sang er 1972 in "Hoch im Norden", im Jahr darauf gelang ihm mit "Alles klar auf der Andrea Doria" der Durchbruch. Und das mit deutschen Liedtexten in einer Zeit, in der das Englische unangefochtene Pop-Amtssprache war. Der Journalist Moritz von Uslar, der 2008 mit Lindenbergs Freund Benjamin von Stuckrad-Barre (im Bild rechts) das Buch "Am Trallafitti-Tresen: Das Werk von Udo Lindenberg in seinen Texten" verfasste, würdigt die "Leichtigkeit, Beiläufigkeit, Schnoddrigkeit, das Doppeldeutige und das Fingerschnippen" in Lindenbergs Liedtexten. "Das Universelle, Bedeutende wird klein gemacht, das scheinbar Unwichtige, Banale groß." Etwa über typische "Udo-Vokabeln": "irgendwie; einfach mal; so 'n bisschen; mal sehen; und so; alles klar; und dann war ich wieder völlig fertig". Oder über das "Udo-Personal", von ihm erfundene Charaktere wie Alkoholmädchen, Jonny Controlletti, Bodo Ballermann, Rudi Ratlos, Sister King Kong, Gene Galaxo, Gerhard Gösebrecht, Wotan Wahnwitz, Elli Pirelly, Emanuel Flipmann und Lady Whisky.
Oder über den Udo-Begriff "Panik": Der sei ein "Beispiel für eine Udo-Vokabel, die sich losgelöst hat von jedem Sinn" und längst ihr Eigenleben führe, sagt Stuckrad-Barre. Erstmals und noch im ursprünglichen Sinn tauchte sie im Lied "Hoch im Norden" auf dem Album "Daumen im Wind" von 1972 auf. Auf der nächsten Platte "Alles klar auf der Andrea Doria" (im Bild das Cover) war seine Band dann schon als Panik-Orchester auf dem Cover (im Bild). "Panik steht fortan als Synonym für alles, was Udo gut findet, also subversiv, chaotisch, aufregend..." Die Deutschen jedenfalls horchten auf: Das klang anders als alles, was bis dahin aus den Radios dröhnte.
Schon das folgende Album "Ball Pompös" brachte Gold. Auf der "Dröhnland"-Tournee, 1979 inszeniert von Theater-Gott Peter Zadek, stand Udo Lindenberg mit Eric Burdon auf der Bühne und sang mit ihm dessen Welthit "We've gotta get out of this place". In Lindenbergs freier Übersetzung klang das Protestlied, das bei den GIs in Vietnam zu Popularität gelangt war, so: "Verdammt, wir müssen raus aus dem Dreck, da gibt es gar nichts, wir müssen hier weg, wir müssen raus aus dem Dreck, Mädchen, es gibt ein besseres Leben, für dich und mich." Der Wahl-Hamburger aus Gronau wurde zum Wegbereiter des Deutsch-Rock: "Ohne Udo Lindenberg würden wir alle nicht das erreicht haben mit unserer deutschsprachigen Rockmusik, was passiert ist", sagte jüngst seine Kollegin Nina Hagen. Bild: Im Januar 1979 probt Udo Lindenberg in Bremen für die 'Dröhnland"-Tournee
Und Lindenberg schrieb Geschichte(n) - in Songs und Statements. Besonders das zweite Deutschland hatte es ihm angetan. Zu Zeiten der deutschen Teilung sang er 1986 über die Begegnung eines Westbesuchers mit dem "Mädchen aus Ost-Berlin": "Ihr spürt, dass ihr gerne zusammen seid, und ihr träumt von einem Rockfestival auf dem Alexanderplatz, mit den Rolling Stones und 'ner Band aus Moskau. Doch plötzlich ist es schon zehn nach elf, und sie sagt: Ey, du musst ja spätestens um zwölf wieder drüben sein, sonst gibt's die größten Nerverei'n, denn du hast ja nur 'nen Tageschein." Bild: Udo Lindenberg besichtigt 1977 bei einer Reise zur Berliner Funkausstellung den Alexanderplatz
Im Oktober 1983 trat Lindenberg im Ost-Berliner Palast der Republik auf (im Bild). Vier Lieder durfte er, der acht Jahre lang um eine Auftrittsgenehmigung in der DDR gekämpft hatte, bei dem von der FDJ organisierten Konzert singen. Doch selbst dafür hatte Lindenberg den Druck erheblich erhöhen müssen. Nachdem sein Gesuch, ein Konzert für seine ostdeutschen Fans geben zu dürfen, seit 1974 ignoriert worden war, hatte er seiner Enttäuschung über die DDR immer wieder öffentlich Ausdruck verliehen. In seiner Stasi-Akte steht: "Er bezeichnete gegenüber westlichen Massenmedien die DDR als Deutsche Desillusions Republik in Sachen Kulturaustausch." Schließlich veröffentlichte Lindenberg im Februar 1983 das Lied "Sonderzug nach Pankow", ein direktes Bittgesuch an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Dieser wird im Liedtext als verknöcherter und scheinheiliger Mann dargestellt, der offiziell die Ideologie der Regierung präsentiere, aber innerlich ein Rocker sei und heimlich West-Radio höre. In einem Begleitbrief zum Song schrieb Lindenberg 1983 an Honecker: "Laß doch nun auch mal einen echten deutschen Klartext-Rocker in der DDR rocken. Zeig Dich doch mal von Deiner locker-menschlichen und flexiblen Seite, zeig uns Deinen Humor und Deine Souveränität und laß die Nachtigall von Billerbeck ihre Zauberstimme erheben. Sieh das alles nicht so eng und verkniffen, Genosse Honey, und gib dein Okey für meine DDR-Tournee." Honecker war aufgebracht. In einem Brief versuchte der Lindenberg-Berater Michael Gaißmayer, die Wogen zu glätten. Egon Krenz, damals FDJ-Chef, lud daraufhin Lindenberg ein, im Rahmen eines FDJ-Friedenskonzertes mit Künstlern aus aller Welt im Palast der Republik in Ost-Berlin aufzutreten.
Das Geplänkel zwischen Lindenberg und Honecker ging weiter. 1987 kam es in Ost-Berlin zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, weil DDR-Rockfans versucht hatten, den jenseits der Mauer spielenden Stars Eurythmics, Genesis und David Bowie zuzuhören. In einem Udo-mäßig formulierten Brief beschwerte sich LIndenberg beim "Oberindianer" Honecker über das "hirnlose Vorgehen der Rudi-Ratlos-Gangs von der Vopo", streckte aber wieder die Hand zur Versöhnung aus. Die beiliegende Lederjacke solle "Honni" inspirieren, raus auf die Straße zu gehen, die "bunten Kiddys" zu treffen und ein "Urbi et Gorbi" anzustimmen. Im Gegenzug zur geschenkten Lederjacke ließ Honecker dem westdeutschen Rockstar in ungewohnter Schlagfertigkeit eine Schalmei zukommen. Bild: Lindenberg mit Michail Gorbatschow (links) im November 1999 in Berlin. Nach Gorbatschows Wahl zum KPdSU-Generalsekretär im Jahr 1985 hatte Lindenberg mehrere Konzerte in der damaligen Sowjetunion gegeben.
Als der DDR-Staatschef den ersten Staatsbesuch in der BRD absolvierte, nutzte Lindenberg die Gelegenheit und überreichte Honecker in Wuppertal (im Bild) eine - laut Lindenberg - "nicht ganz billige Gitarre" mit der Aufschrift "Gitarren statt Knarren". Lindenberg hatte nach der Wiedervereinigung viel geschafft: Pionier des Deutsch-Rock, dem Staatsmänner zuhören. Und trotzdem stürzte er in den Neunziger- und frühen Nullerjahren ab. Der Alkohol, dem schon der Vater zugeneigt war, wurde auch für ihn zum Problem. Wobei Lindenberg darin auch Positives zu sehen versuchte - bis hin zu mit Schnapsfarben gemalten Gemälden, den patentierten "Likörellen". In seinem Lied "Unterm Säufermond" besingt er den tückischen Trost, den der Alkohol in der Einsamkeit spende: "Und der Whisky, der zieht runter - und sein Blut wird schnell und warm. Und jetzt nimmt ihn Lady Whisky ganz zärtlich in den Arm". Lindenberg ließ sich allzu oft von "Lady Whisky" in den Arm nehmen. In Hamburger Krankenhäusern wurde er Dauergast zur Ausnüchterung - viele Wegbegleiter bescheinigen ihm keine allzu lange Lebenserwartung. Doch Lindenberg hat die Kurve gekriegt. Mit der Comeback-Platte "Stark wie zwei" vor acht Jahren gelang ihm sogar das erste Nummer-Eins-Album seiner Karriere. Für die Platte bekam er viel Lob. Auch weil er seinen Niedergang darauf ehrlich anspricht - mit dem Udo-typischen Fatalismus, der so tröstlich ist: "Knietief im Whisky, bis zum Nabel im Wodka, so ging er durch sein Leben, immer wieder runter, in den Underground, um die speziellen Weisheiten zu heben", heißt es in dem Lied "Nasses Gold" auf "Stark wie zwei". In Interviews betont er das Aufstehen auch nach dem härtesten Absturz: "Ich war ja der Exzessor, und dann musste eben mal der Arzt kommen und den Astronauten wieder auf Bodenstation bringen. Kurz mal Quarantäne, drei Tage Krankenhaus und so. Und nach gelungener Entgiftung wurde dann weitergeflogen."
Nach seiner Platte "MTV Unplugged" (2011) platziert er nun mit "Stärker als die Zeit" sein drittes Nummer-Eins-Album. Darauf bedankt er sich im Lied "Mein Body und ich" bei seinem Körper: "Ich hab' geraucht so wie ein Schlot und gesoffen wie ein Loch. Ich hab' dich super hart geschunden, trotzdem leben wir immer noch." Und nicht nur das: Mit 70 Jahren ist er fitter denn je, rockte bei den ersten Proben für die neue Tournee fast drei Stunden lang in seinen neongrünen Socken über die Bühne. Bild: Udo Lindenberg in der ARD-Doku "Stärker als die Zeit", die ihn beim Überqueren der Abbey Road in London zeigt. Mit dem Orchester der legendären Abbey-Road-Studios nahm Lindenberg die Titelmelodie seines aktuellen Albums auf.
Die Tour, die am kommenden Freitag in Gelsenkirchen startet, führt mit 14 Konzerten durch neun Städte. Seinen 70. Geburtstag feiert er mitten in den Proben im Schalke-Stadion von Gelsenkirchen. Nach dem Start der Tour am 20. Mai kutschieren 31 Trucks die Materialien bis zum 26. Juni durchs Land: 200 Lautsprecher, 31 Kilometer Kabel, 300 Spezialscheinwerfer - für den "pompösen Abschlussball", wie er die Tournee nennt, denn "in dieser Form wird es die Shows nicht mehr geben". Wie heißt es auf seiner aktuellen Platte? "Jede Show kann die letzte sein." Was danach passiert? "Dann fährt der Abenteurer weiter Richtung neue Horizonte", sagt er. "Aber erst einmal gibt es die letzte volle Ladung Udopium fürs Panik-Volk."