Tanz:Sehnsucht nach Berührung

Palmos

Ob Mann, ob Frau, ob drittes oder x-tes Geschlecht, ist in "Palmos" völlig gleichgültig.

(Foto: Filip van Roe)

Eine Digitalpremiere von elementarer Kraft: "Palmos" am Ballet Vlaanderen in Antwerpen ist eine wilde Choreografie von Andonis Foniadakis und als Stream abrufbar.

Von Dorion Weickmann

In der Mitte, nach ziemlich genau dreißig Minuten, ereignet sich Spektakuläres. Wenn auch unscheinbar verpackt: als Tanzpaar in Spitzenschuh und Schläppchen, wie es die Etikette des Balletts seit zweihundert Jahren gebietet. Nur sind es zwei Männer, die hier den intimen Moment der Nähe teilen. Morgan Lugo ist auf flacher Sohle unterwegs, Daniel Domenech trägt das typische Damenschuhwerk des klassischen Akademismus. So hat sich "Palmos" - choreografiert von Andonis Foniadakis, getanzt und gestreamt vom belgischen Ballett Vlaanderen in Antwerpen - die aktuellen Auf- und Umbrüche buchstäblich einverleibt: Ob Mann, ob Frau, ob drittes, viertes, x-tes Geschlecht, ist vollkommen gleichgültig. Wir sehen zwei Menschen, die einander umarmen, trösten, begehren. Der Spitzenschuh steigert die Körperspannung, aber weder Feminität noch Fragilität der Erscheinung. Zu einer zarten Ballade des amerikanischen Singer-Songwriters Active Child alias Patrick James Grossi entspinnt sich der Pas de deux als Höhepunkt einer Uraufführung (zu sehen bis 28. März auf www.operaballet.be).

Noch keine Digitalkreation hat unsere Sehnsucht nach Kontakt und Kommunikation in eine derart hypnotische Traumlandschaft verwandelt. Woher rührt die Dichte der Bilder, die Intensität ihrer Wirkung? Kurz vor der Premiere sitzt Andonis Foniadakis in Antwerpen vor der Zoom-Kamera. Der Ausnahmezustand schlägt ihm aufs Gemüt, also hat er hat sich einen ganz persönlichen Gegenkurs verordnet: Er trifft niemanden, er meidet die Liebe, den Sex. Seit einem Jahr spielt sich sein Leben nur noch in Tanzstudios und Ballettsälen ab. Die Arbeit, das Schaffen und Schöpfen ist ihm wichtiger denn je, "Palmos" mithin auch eine Art Überdruckventil.

Naturgewalten entzünden Foniadakis' Fantasie - und das ozeanische Gefühl einer Kindheit auf Kreta

Foniadakis geht auf die fünfzig zu, arriviert ist er nicht. Er hat Aufträge aus ganz Europa, Kanada und den USA und gilt immer noch als eine Art Geheimfavorit. Der Grieche gehört nun mal nicht zu den fabelhaften Erzählern, den knalligen Bildermachern oder Miniaturziseleuren der Zunft. Stattdessen rauschen seine Choreografien heran, abstrakt und ungestüm zugleich. Sie branden gegen die eigene Wahrnehmung, türmen sich zu monumentalen Gebilden und entfernen sich wieder, wie Meereswellen. Obwohl Foniadakis bei Maurice Béjart in die Lehre ging und für hochkarätige Kollegen tanzte, hat kein einziger Stil-Guru seine künstlerische Selbstfindung beeinträchtigt. Stattdessen entzünden Naturgewalten seine Fantasie: Sandstürme am Strand, tosende Gischt und das ozeanische Gefühl einer Kindheit auf Kreta, nur einen Katzensprung nördlich von Afrika.

Palmos

Elementare Kraft peitscht das Stück "Palmos" voran, das, wie der Titel besagt, dem "Puls" der Gegenwart nachspürt.

(Foto: Filip van Roe)

Elementare Kraft peitscht auch "Palmos" voran, das, wie der Titel besagt, dem "Puls" der Gegenwart samt Ausschlägen nach oben und unten nachspürt. Ein einzelner Tänzer macht den Anfang, ein Faun, der sich vor schwefelgelben Lichtquadraten langsam aus der Horizontale schält. Animalisch zuckt der Leib, schraubt sich lotrecht empor - ein Homunculus, dessen Schatten um vieles größer ist als er selbst. Die Einsamkeit gleicht der Regression, die der Beziehungsentzug im Lockdown heraufbeschwört. Die Antwort ist eine Flucht in die Sucht. In "Palmos" jagt eine Begegnung die nächste - Männer, Frauen, in Zweier-, Dreier- und Viererkonstellationen, die sich binnen Minuten verflechten und wieder auflösen.

Palmos

Das Stück ist auch in seiner Bewegungssprache ein schönheitstrunkenes Bekenntnis.

(Foto: Filip van Roe)

Anfangs nass bis in die Haarspitzen, schwirren die fünfzehn Akteure auf die Bühne des Teater't Eilandje in Antwerpen, wo sie erst trocknen, dann schwitzen und schließlich am Rand des Tanzrausches balancieren. Das Crescendo erfasst auch ihre Bewegungssprache. Spreiz- und Hocksprünge, Hebungen und Drehungen steigern sich ins Turbodynamische und geraten doch nie aus der Fasson. Das Ich weicht dem Wir, wenn Arme, Beine, Füße und Hände zu zweiköpfigen Fabelwesen verschleifen, ununterscheidbar wie Platons mythische Kugelmenschen. Die lyrischen Songs von Active Child markieren den Herzschlag der Doppelgeschöpfe, mit denen Andonis Foniadakis seine Idee einer lichteren Zukunft ausmalt. Seit 2020 ist sie ein Stück weit Vergangenheit, und das weiß er auch.

Zugleich glaubt der Choreograf an Wiedergeburt und an die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft. Deshalb ist "Palmos" sowohl ein schönheitstrunkenes Bekenntnis als auch ein Bekehrungsversuch: für Tagträumer und Nachtgrübler gleichermaßen geeignet.

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