Ukrainisches Tagebuch (XIX):Pakete aus Schytomyr

Ukrainisches Tagebuch (XIX): Ihre eigene Katze ist kulinarisch weniger verwöhnt: Oxana Matiychuk.

Ihre eigene Katze ist kulinarisch weniger verwöhnt: Oxana Matiychuk.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Im Haus unserer Autorin in Czernowitz wohnen inzwischen doppelt so viele Menschen wie vor dem Krieg. Deshalb wird jetzt anders gekocht und gegessen.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

In unserem Doppelhaus sind wir nun zu zehnt - vor dem Krieg waren wir nach dem Tod meines Vaters zuletzt zu viert; es gilt, was mir vor ein paar Tagen eine gute Freundin aus Hamburg schrieb, ihre Freundin, die ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat, zitierend: "Der Raum wird enger, der Horizont weiter." Unser Horizont reicht jetzt tatsächlich viel weiter, bis in die Regionen, wo wir nie waren; Orte und Namen klingen nicht mehr abstrakt, sondern bekommen durch die Erzählungen und Erinnerungen unserer Gäste ihre plastischen, sinnlichen, emotionalen "Gesichter". Wir sind alle betroffen, auch wir, die wir uns nirgendwohin bewegen mussten und noch keine einstürzenden Häuser in unseren Städten sahen. Wir wissen inzwischen, dass das Haus von K.s Eltern zerstört wurde und sie in Odessa bei Verwandten sind. Wir wissen, wie es um die Stadt unserer Gäste aus Mariupol bestellt ist. Am Abend des 29. März erfahren wir, dass der Taufpate von O. nach dem Angriff auf das Gebäude der Mykolajiwer Gebietsverwaltung unter den Toten ist. Die Anzahl der Opfer ist Stand 1. April auf 20 Personen gestiegen. Die Folge dieses Raketenbeschusses ist spektakulär: Mitten im neunstöckigen Gebäude ist ein riesengroßes Loch über mehrere Etagen. Eine wahrhaft filigrane Leistung. Dieser "russische Gruß" am frühen Morgen galt dem Mykolajiwer Gouverneur Witalij Kim und seinem Team. Der russischsprachige halbkoreanische Kim gehört zu den charismatischsten "Neonazis" in der Ukraine. Gott sei Dank war er selbst zum Zeitpunkt des Angriffs nicht im Gebäude. Mehrere seiner Angestellten hatten weniger Glück.

I., die Mutter von R. aus Mariupol, registriert sich gleich am nächsten Tag nach der Ankunft als Geflüchtete, dabei erhält sie ein kleines Lebensmittelpaket - Reis, Zucker, eine kleine Pastete. Ich weiß nicht so recht, wie ich darauf reagieren soll, wir haben im Haus alles. Andererseits verstehe ich, dass ihr das zusteht und sie zu unserem nun gemeinsamen Haushalt etwas beitragen möchte. I. scheut auch keinen Gang zum Arbeitsamt, sie wolle nützlich sein und arbeiten, sagt sie. Sie bekommt sofort eine Stelle vermittelt, bei einer kleinen Lederherstellungsfirma, von der ich früher nie gehört habe, also wieder etwas dazugelernt. I. war früher im Bereich Rechnungswesen und Lagerlogistik tätig. Ihre letzte Stelle hatte sie in Mariupol in der Stahlfabrik "Asowstahl", die Rinat Achmetow gehört, einem der größten ukrainischen Oligarchen. Es war gar nicht so schlecht, meint I., es gab gute Sozialschutzpakete. Nun geht sie in die Probezeit in einem kleinen Privatunternehmen im Stadtteil Sadhora, die Czernowitz-Kenner wissen, dass es sich um den früheren Vorort handelt, wo sich das Reich der Wunderrabbis aus der Friedmann-Dynastie befand, eines der Chassidismus-Zentren in Osteuropa. I. muss sehr früh weg und weit fahren, sie sagt aber, das würde ihr nichts ausmachen, ihre Arbeit in Mariupol fing um 7.45 Uhr an. Ich bewundere ihre Entschlossenheit und ihre Bereitschaft, sich an eine komplett neue Umgebung und ganz andere Umstände anzupassen. R., die Tochter, registriert sich erst einmal nicht, ihre Organisation will sie auch weiterhin beschäftigen, es wird ein neuer Standort für das Ukraine-Büro gesucht.

Es erweitern sich auch unsere Essenshorizonte. Nur mit dem Speck kann ich mich nicht anfreunden

Mein Kollege M. aus der Region Schytomyr schwärmt von der Schönheit seiner Heimat Polіssja. Von seinen Eltern, die ihr Haus nicht verlassen wollen, kommen ab und an Essenspakete mit Eingemachtem, Speck und getrockneten oder eingelegten Schmierröhrlingen, die köstlich schmecken. Es werden auch unsere Essenshorizonte erweitert: geschmorte Hühnerherzen oder Rotkohlsalat mit Rosinen und Äpfeln würde ich selbst vermutlich niemals zubereiten und bin meinen Gästen für diese Entdeckung dankbar; so viel Avocado aß ich nie in meinem früheren Leben - es soll ganz gut sein, gerade in der Zeit einer extremen Belastung. Eine absolute Win-win-Situation für mich, da ich mich fürs Kochen, eine in der Ukraine ultimativ geltende Frauenpflicht, niemals begeistern konnte. Nur mit Speck kann ich mich nicht anfreunden, sehr zum Bedauern von M.

Diese Zeilen schreibe ich in unserer "Dienststelle" an der Universität; parallel besprechen wir die Pläne für die kommenden Stunden und Tage. Wieder ist eine große Hilfslieferung vom Universitätsklinikum Halle auf dem Weg nach Czernowitz, spätestens morgen früh ist der Transport aus Polen da. Am Sonntagmorgen dürfen wir erneut die Grenzpolizisten am ukrainisch-rumänischen Grenzübergang begrüßen: Unsere Partnerinstitutionen sowie Freundinnen und Freunde aus Lübeck schicken heute ebenfalls ein Fahrzeug mit humanitärer Hilfe los. S. sagt, das nächste Wochenende fällt für uns im klassischen Sinne wieder aus.

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