Pädophilie-Debatte:Dichtung oder Wahrheit

Italien streitet in einer großen Feuilletondebatte über angebliche Pädophilie in der neueren Literatur und über die Frage, welcher Tabubruch vertretbar ist und welcher nicht. Zwischen Fiktion und Fakten wird dabei nicht immer sauber getrennt.

Von Thomas Steinfeld

In der Woche vor Ostern erschien in Italien ein Roman von Walter Siti, einem pensionierten Professor für Literaturgeschichte und preisgekrönten Schriftsteller. Siti ist Herausgeber mehrerer Editionen zu Werken Pier Paolo Pasolinis. "Bruciare tutto" lautet der Titel des neuen Romans, "alles verbrennen". Er erzählt von einem tatsächlich gläubigen katholischen Priester, der während seiner Ausbildung ein sexuelles Verhältnis zu einem Knaben unterhielt, sich dann aber allen Versuchungen verweigert. Die Gelegenheit kehrt allerdings wieder, in besonders verführerischer Form, als er längst Pfarrer einer Gemeinde ist. Doch widersteht er wieder - und der junge Mann verzweifelt und tötet sich.

"Ein Horror" sei dieses Buch, schrieb daraufhin die Philosophin Michela Marzano in einer furiosen Rezension in der Tageszeitung La Repubblica . "Falls möglich, ist es sogar noch schlimmer. Da gibt es Besuche auf illegalen Seiten im Internet und im 'Deep Web', und es werden unmenschliche Kommentare wiedergegeben, wie etwa die Äußerungen eines Pädophilen zu der Fotografie des kleinen Aylan, der tot auf dem Strand liegt." In den Feuilletons der italienischen Tageszeitungen sind Verrisse selten, um von Bekundungen des Abscheus gar nicht anzufangen. Die Redaktion der Repubblica wird allerdings gewusst haben, was sie tat, als sie sich für diese Rezensentin entschied: Michaela Marzano lehrte Ethik an der Sorbonne und schrieb Bücher wie "Die Pornographie oder die Erschöpfung des Begehrens" (2003), bevor sie 2013 Abgeordnete im italienischen Parlament wurde. Vor einem Jahr verließ sie jedoch die Fraktion des "Partito Democratico", weil sie einem Gesetz nicht zustimmen wollte, das gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption von Kindern erlaubt.

Eine heftige Debatte zieht seitdem durch die Feuilletons, wobei die Mehrheit immer wieder das Argument wiederholt, dass Literatur nicht wie das Leben zu behandeln sei. Im Übrigen lassen sich Tabus kaum geplant verletzen, ungeplant schon eher. Doch so richtig diese Argumente auch sein mögen: Gegen das Interesse, Fiktionen wie Fakten behandeln zu wollen, scheinen sie immer weniger ausrichten zu können.

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