Süddeutsche Zeitung

Graphic Novel:Die Kraft der Erinnerung

Was Bilder vermitteln und was sie verschweigen: Paco Roca und Bianca Schaalburg erzählen von ihren Familien - und den Diktaturen in Spanien und Deutschland im 20. Jahrhundert.

Von Fritz Göttler

Die alte Frau sucht ein Bild, ein Foto, das in ihrer Jugend gemacht wurde und das sie viele Jahrzehnte lang bewahrte, nun aber hat sie ihre Wohnung aufgegeben und ist zu einem der Söhne gezogen, und bei diesem Umzug ging das Bild verloren. Ein Foto, das ihr ganzes Leben ausmacht - die sture Verzweiflung, die Antonia über diesen Verlust entwickelt, ist ihren Kindern befremdlich, also schauen sie nach Monaten noch einmal gründlich nach, und siehe da, dabei entdecken sie das übersehene Foto.

Was Bilder (einem) bedeuten können, welchen Wert sie haben, darum geht es in zwei neuen Graphic Novels, einer aus Spanien und einer aus Deutschland, vom Erfolgsautor Paco Roca und von Bianca Schaalburg (ihr erstes großes Buch): "Rückkehr nach Eden" und "Der Duft der Kiefern". Zwei Familiengeschichten, die über die individuellen und persönlichen Geschicke die Geschichte ihres Landes erzählen - Spanien und Deutschland im 20. Jahrhundert, beide geprägt und ramponiert von brutalen totalitären Systemen und diktatorischen Figuren, Franco und Hitler, in einem Wirbel von Gewalt, Zerstörung, Vernichtung. Zwei unglaublich bewegende Bücher über die Kraft des Erinnerns, und über seine Traurigkeit, konstruiert mit kühnen emotionalen Zeitsprüngen und -schüben, beide nutzen detaillierte Tafeln der Generationenfolge. Zwei subtile Essays also über die Zeit selbst, das Rätsel der Geschichtlichkeit, und wie Bilder Geschichte zu fassen kriegen. Wie werden Bilder sich öffnen beim Lesen ... und was sie womöglich verschweigen.

Das Foto zeigt ein verlorenes Paradies - das es aber nie gegeben hat und nie geben wird

"Rückkehr nach Eden" heißt das Buch von Paco Roca, und eben dieses Eden hält das Foto fest, das die alte Antonia so verzweifelt sucht. Sie hatte es unter der Glasscheibe ihres Nachttischs festgeklemmt, wie unter einer Bernsteinschicht, die ganzen Jahre über, als Ehefrau und Mutter. Das paradiesische Eden, das war für sie ein Tag am Strand, nahe der Stadt Valencia, wo die Familie lebte, ein professioneller Fotograf hat ihn festgehalten mit seinem Apparat. Ein Tag mit der Familie, nicht der ganzen, vor allem der Vater fehlt, aber die geliebte Schwester Amparín ist dabei. Es ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, es herrscht eine rigide bürgerliche, vom Katholizismus bestimmte Moral - familiärer Patriarchalismus und materielle Not, was Paco Roca in klaren, einfachen Konturen erfasst. Eden, der Strand, das war Heiterkeit und Freiheit - aber eben an diesem Tag ist die Familie auseinandergebrochen. Eden, ein verlorenes Paradies, das es nie gegeben hat und nie geben wird. Es gibt nur, in weiter Ferne, den Tod, ein imaginärer Ballonfahrer wird Antonia heimholen.

"Der Duft der Kiefern" heißt das Buch von Bianca Schaalburg, sie selbst ist die Hauptfigur, erst als Mädchen, später als Mutter, nur die Helmfrisur ändert sich ein wenig. Bianca ist in einer weitverzweigten Familie aufgewachsen, und eines Tages beginnt sie, deren Geschichte zu erforschen, und auch die Geschichten jener, die mit ihr in Verbindung standen. Die alte Frage natürlich, die alle in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts umtrieb, was haben sie im Krieg gemacht, im Nationalsozialismus, aber auch, wie war das im geteilten Deutschland, und dann nach der Wiedervereinigung.

Die Erinnerungen schwinden, immer mehr muss imaginiert werden

Auch dieses Buch beginnt mit einer alten Frau und dem Schwinden der Erinnerungen: Die Großmutter Else kommt ins Pflegeheim, Bianca erbt einen wuchtigen Art-déco-Schrank von ihr, der jedes Schlafzimmer erdrückt. Biancas Mutter Edda besucht sie jede Woche, sie selbst hat Krebs, dem sie 2004 erliegt, daraufhin übernimmt die Tochter Bianca die Besuche. Von denen kriegt die Großmutter in ihrer Demenz immer weniger mit. Die Erinnerungen schwinden, die Menschen, die Geheimnisse, immer mehr muss Bianca, wenn sie das alles aufschreibt und malt, ihre Imagination einsetzen, mit kräftigen, ganz diversen Malstilen. Sie nutzt (und reproduziert) Dokumente aus offiziellen Stellen und Behörden, Dateien und Kataloge, die sie mit ihrem Sohn Emile konsultiert - die beiden vereint eine Lust an der Recherche. Die erfolgt oft am Küchentisch, neben Tellern voller köstlicher selbst zubereiteter Speisen, auch zum krümeligen Herrenkuchen gibt es Informationen. Von vielen jüdischen Leben bleiben nur Namen auf Stolpersteinen, drei dieser Leben malt Bianca sich aus, Deportation, Theresienstadt, Gaskammern ... irgendwann kann es keine Bilder mehr dafür geben, es bleiben nur Worte, und irgendwann sind auch diese nicht mehr möglich ...

Was hat Opa Heinrich in Riga gemacht, was hat er gewusst!

Im Mittelpunkt steht das Haus im Eisvogelweg, in der Waldsiedlung Onkel Toms Hütte, von Bruno Taut einst gebaut, hier besucht die kleine Bianca regelmäßig Oma und Uroma. Verschwinden und Verlust bestimmen die Geschichte der Familie (und Deutschlands), Versagen und Gleichgültigkeit und Gefühlskälte. Die Kiefern kehren immer wieder in der Geschichte, ihr Duft oder die gespenstischen Baumgerippe beim Massenmord im Wald von Bikernieki, oder dann, ganz pittoresk, die Kiefernzapfen an einer Schwarzwälder Uhr.

Auch hier geht es um ein Foto, das beim wiederholten Anschauen immer mehr Fragen stellt ... es zeigt Opa Heinrich in Uniform zu Pferd: Er war im Weltkrieg in Riga stationiert, hinter ihm ist eine Baracke zu erkennen - eine Lagerbaracke? Was hat er in Riga gemacht, was hat er gewusst! Das Buch ist im dichten Dialog mit dem Leser erzählt, es endet fast heiter in der weißen Stadt Tel Aviv. Für das, was Bianca von ihrem Ende imaginiert, gibt es keine Bilder. Wie wäre das, wenn die drei in KZs umgekommenen Juden sich hierher hätten flüchten können? Eine Rückkehr in ein verlorenes Paradies.

Geschichte hat, da sind sich beide Graphic Novels ganz gewiss, auch eine virtuelle Seite, und die Fotos halten diese zweite Wirklichkeit geduldig fest. Das Titelbild von Paco Rocas "Rückkehr nach Eden" zeigt die Rückseite der Erinnerung, einen Gegenschuss von der anderen Seite der Strandszene, der Meerseite. Es ist Antonias Perspektive, deshalb ist sie nicht im Bild.

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