"Pacifiction" im Kino:Halluzination in der Südsee

"Pacifiction" im Kino: Alte Südseeträume treffen auf moderne Paranoia - Szene aus "Pacifiction" von Albert Serra.

Alte Südseeträume treffen auf moderne Paranoia - Szene aus "Pacifiction" von Albert Serra.

(Foto: Filmgalerie 451)

Der Schönheit Tahitis verfallen, aber ganz ohne Exotismus - sowas kann nur der Filmemacher und Documenta-Teilnehmer Albert Serra: "Pacifiction" ist ein Triumph.

Von Philipp Stadelmaier

Zum Beispiel die Szene mit der Welle. Der Hochkommissar de Roller, Vertreter des französischen Staates auf Französisch-Polynesien, unternimmt einen Ausflug aufs Wasser. Um Präsenz zu zeigen, den Top-Surfern der Insel Gefälligkeiten anzubieten. Oder um aus dem Büro rauszukommen, in dem man ihn während des Films kein einziges Mal sieht. De Rollers Büro ist die Insel selbst, mit ihren Bungalows und Nachtclubs, ihrer Vegetation und dem Ozean.

De Roller steigt also zu einem Mann auf einen Jetski, und im Hintergrund kommt dieser gigantische Brecher angerollt, auf ihn und die Kamera zu. Beide schaffen es gerade noch so, über die Welle hinweggleiten. Die Szene ist atemberaubend, weil sie real ist und wie zufällig eingefangen erscheint. Im Vergleich dazu wirkt James Camerons digital animiertes "Avatar"-Wasserwelt-Spektakel wie ein Kinderplanschbecken.

Wenn es heutzutage einen Grund gibt, ins Kino zu gehen, um etwas zu sehen, was man sonst nirgends sehen kann - dann ist es "Pacifiction", dieser meisterhafte, einzigartige Film von Albert Serra, der vergangenes Jahr im Wettbewerb in Cannes lief. Die früheren Arbeiten des avantgardistischen katalanischen Filmemachers drehten sich um historische Figuren wie Don Quijote, Louis XIV. oder Casanova und provozierten mit genauso exzentrischen wie trägen Körpern. "Pacifiction" hingegen taucht in die Gegenwart ein und ist für Serras Verhältnisse ungewohnt erzählerisch, wobei sich die Handlung regelmäßig wie eine Wellenbewegung auftürmt, bricht, wieder verläuft.

Man spürt eine enorme Liebe in diesem polynesisch-internationalen Cast

Alles dreht sich um Vermutungen, die sich nie konkretisieren. De Roller werden Gerüchte zugetragen, welche die Menschen vor Ort in Aufregung versetzen: Der französische Staat plane die Wiederaufnahme von Kernwaffentests im Atoll, vor der Küste sollen Atom-U-Boote aufgetaucht sein. Ein Admiral der Marine, der viel trinkt, Drogen nimmt ("aber nur an Land!") und sich für junge Männer interessiert, macht vage Andeutungen. Der Hochkommissar stellt Ermittlungen an, in Nachtclubs, Hotelgärten, am Strand, und immer wieder auf See. Er spricht mit allen, lächelt, charmiert, manipuliert, verhandelt, auf der Suche nach Informationen. Doch er findet - nichts.

"Pacifiction" im Kino: Perfekte Höflichkeit, laszive Aggressivität: Benoît Magimel (Mitte) vertritt den französischen Staat auf der Insel.

Perfekte Höflichkeit, laszive Aggressivität: Benoît Magimel (Mitte) vertritt den französischen Staat auf der Insel.

(Foto: Filmgalerie 451)

Benoît Magimel, der französische Schauspiel-Star, gekleidet in helle Anzüge und knallbunte Hawaiihemden, den Blick verborgen hinter getönten Brillengläsern, verleiht de Roller eine unnachahmliche Mischung aus perfekter Höflichkeit und lasziver Aggressivität, wie ein jederzeit zum Vorschnellen bereites, graziles Raubtier, das nie die Beherrschung verliert.

Dann ist da die sanfte Shannah, gespielt von der Schauspielerin Pahoa Mahagafanau, trans oder "mahu", so die polynesische Bezeichnung für ein drittes Cross-Gender. Oder jener ebenso beleibte wie funktionslose Katalane, verkörpert von Lluís Serrat, einem Stammschauspieler Serras, der stets kurz vor dem Einschlafen zu sein scheint. Man spürt eine enorme Liebe und einen gegenseitigen Respekt in diesem polynesisch-internationalen Cast, die Lust, ein gemeinsames Experiment zu wagen, in dem nie jemand laut wird, seine Stimme nie über die eines anderen erhebt.

Das Gelingen des Unternehmens ist dabei umso größer, als dass die Gefahr seines Scheiterns allgegenwärtig ist. Der fast dreistündige Film verzichtet auf jede übergeordnete dramatische Struktur. Und dann ist da das Risiko des Exotismus. "Pacifiction" ist ein wunderschöner Film, getaucht in tropisches Licht und paradiesische Rottöne, als wäre die Sonne stets am Auf- oder Untergehen.

Und doch verliert die Erzählung keine Sekunde an Spannung, während die Arbeitsmethode des Filmemachers alle Klischees eliminiert. Noch die minimalste Geste Magimels, die Serra an frühere Filme des Stars erinnert hat, an Ticks und Manierismen, wurde beim Schnitt entfernt. Beim Dreh wussten die Schauspieler nicht, wann sie gefilmt wurden. Anweisungen wurden während der Takes gegeben. Später wählte Serra aus mehr als fünfhundert Stunden intuitiv das Material für den Endschnitt aus, ohne Rücksicht auf dramaturgische Notwendigkeiten. Chaos und Zufall regieren (fast) alles, der Künstler tritt als Entscheider nur in den Vordergrund, um seine Kontrolle aufzugeben.

Daraus entsteht eine Phantasmagorie, in der der Exotismus mit seinen Farben ebenso wie die postkoloniale Thematik nichts als eine Pazifik-"Fiktion" ist. Die Dinge, die wir auf der Leinwand sehen, kommen uns vor, als würden wir sie ebenso halluzinieren, wie die Figuren es tun. Als würde der Katalane Serra der "paranoisch-kritischen" Methode seines Landsmanns Salvador Dalí folgen, eintauchen in eine delirierende Interpretation der Realität.

Verschwörungsparanoia, Neokolonialismus und Imperialismus werden verhandelt, ohne zu brav recherchierten Themen zu verkümmern. Hier erscheinen sie wie im Traum, verdichtet zu Lichtern, Farben und Körpern. Das Ergebnis erinnert an Coppolas "Apocalypse Now", Chantal Akermans "Almayer's Folly" oder Lucrecia Martels "Zama". Wie seine Vorgänger ist "Pacifiction" ein Film über den Kolonialismus als Bewusstsein und Bilderwelt, aus der es kein Entkommen gibt.

Die Vorstellungen von Atomtests oder U-Booten vor der Küste werden im Film als lächerlich gezeigt und verfolgen doch alle, selbst das französische Militär. Die Paranoia wird zum Zustand der Welt, der über uns hereinbricht wie jene Riesenwelle und uns in den Kinosessel drückt, erschrocken und glücklich zugleich, so etwas in dieser Form noch nie gesehen zu haben.

Pacifiction, Frankreich / Spanien / Deutschland / Portugal 2022 - Regie und Buch: Albert Serra. Kamera: Artur Tort. Mit Benoît Magimel, Pahoa Mahagafanau, Marc Susini. Filmgalerie 451, 163 Min. Kinostart: 2.2.2023.

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