Süddeutsche Zeitung

Picasso und der Louvre:Beste Feinde

Pablo Picasso und der Louvre verband innige Hassliebe. Eine Schau in Lens sucht nun im Werk des Künstlers nach Spuren aus der Sammlung des berühmten Museums.

Von Joseph Hanimann

Unter dem Titel dieser Ausstellung prallen zwei Großgestirne der Kunst aufeinander, und es ist ungewiss, welches das andere überstrahlt. Die Beziehung zwischen Picasso und dem Louvre war geprägt von wechselseitiger Faszination, Rivalität und mitunter offener Aversion. Das lässt sich in einer Reihe von Anekdoten nachweisen. Die berühmteste ereignete sich im Sommer 1911. Picasso hatte im südfranzösischen Céret gerade ein Haus gemietet, als die Nachricht vom Verschwinden der Mona Lisa aus dem Louvre sich breitmachte, und er stieg überstürzt in den Zug zurück nach Paris. Gegenüber der Zeitung Paris-Journal erklärte ein gewisser Géry Pieret, ehemaliger Sekretär und Freund des Dichters Apollinaire, er sei es, der die Mona Lisa gestohlen habe. Von genau diesem Mann hatte Picasso vier Jahre zuvor zwei ebenfalls aus dem Louvre entwendete altiberische Steinköpfe erworben.

Nun passte der Dichter den Maler besorgt am Pariser Bahnhof ab. Die beiden suchten nervös nach Möglichkeiten, die verdächtig gewordenen Objekte loszuwerden. Sie gaben sie schließlich anonym bei der Redaktion von Paris-Journal ab. Apollinaire wurde dennoch wegen mutmaßlicher Mittäterschaft beim Mona-Lisa-Raub festgenommen, und Picasso wurde als Zeuge vorgeladen. Auf die Frage, ob er den Festgenommenen kenne, soll er geantwortet haben: "Noch nie gesehen." Ob er seinen Freund tatsächlich so krass verleugnete, geht aus den Dokumenten nicht hervor, die der Louvre-Lens in der Ausstellung zu dieser Anekdote zusammengetragen hat. Apollinaire wurde jedenfalls freigelassen und die Mona Lisa 1913 sichergestellt. Der Dieb war ein italienischer Mitarbeiter des Louvre.

Die Ausstellung will sich aber nicht bei solchen Anekdoten aufhalten. Es geht ihr um die Hintergründe einer 70 Jahre dauernden ambivalenten Beziehung. Seit dem ersten Paris-Besuch als Neunzehnjähriger zur Weltausstellung 1900 war Picasso ein regelmäßiger Besucher des Louvre, besonders der altägyptischen, griechisch-römischen und orientalischen Abteilung. In dem vom Büro Scénografiá vorzüglich gestalteten Ausstellungsdesign kann man in einem Längssaal chronologisch die Stationen der Wechselbeziehung zwischen dem Museum und dem Künstler abschreiten und seitlich in Einzelkabinette mit Beispielen eventueller Beeinflussung eintauchen. Dem jungen Kurator Dimitri Salmon ging es dabei mehr ums Suggerieren als ums formale Beweisen.

Die Gegenüberstellungen wirken in der Schau stellenweise etwas weit hergeholt

Sind die großen mandelförmigen Augen der Vorstudien zu Picassos "Demoiselles d'Avignon" auf diese oder jene iberische Skulptur zurückzuführen? Hatte Picassos Rückkehr zu den klassisch gerundeten Figuren mit seinem Interesse für griechisch-römische Grabstelen aus der Antikensammlung des Louvre zu tun? Darf man hinter der aus einigen Holzstücken und Nägeln gebastelten Skulptur "Die Tonkrugträgerin" (La porteuse de jarre, 1935) als Vorbild die "Große Opfergabenträgerin" vermuten, die Picasso dreißig Jahre zuvor in der altägyptischen Abteilung des Louvre abgezeichnet hat? Der visuelle Nimmersatt Picasso hat so sehr alle Anregungen in sich aufgesogen, dass direkte Einflüsse meistens schwer nachweisbar sind. Der italienische Autor Ardengo Soffici beschrieb ihn als einen "Jagdhund, der auf der Suche nach Beute durch die ägyptischen und phönizischen Erdgeschoss-Säle des Louvre streunt" und bald nach einer Sphinx, einer Basaltbüste, einem Papyrusstück oder einem Sarkophag schnappe.

Die hypothetisch gepolsterten Gegenüberstellungen wirken in der Schau stellenweise etwas weit hergeholt. Sie laden den Besucher aber zum aktiven Kombinieren von Motiven und Formen ein. Und die dokumentarisch aufgearbeiteten Episoden des direkten Kontakts zwischen Picasso und den Louvre-Chefs gewähren interessante Einblicke in die argwöhnische gegenseitige Dauerbeobachtung. So wollte 1937 der Direktor des damals noch zum Louvre gehörenden und auf zeitgenössische Kunst aus dem Ausland spezialisierten Museums Jeu de Paume Picassos "Stillleben mit Weinkrug und Brot" aus dem Jahr 1921 erwerben. Da öffentliche Ankäufe jedoch von der Expertenkommission im großen Ratssaal des Louvre abgesegnet werden mussten, wurde dieser Ort zum Schlachtfeld einer beinah handgreiflich ausartenden Kontroverse, bei welcher das Kommissionsmitglied Maurice de Rothschild sich mit dem Ausruf berühmt machte, solches Geschmiere käme nicht einmal in sein Klo. Der Ankauf wurde abgelehnt, und Picasso selbst amüsierte sich mit dem Kommentar, die Kommission habe ganz recht, sein Bild sei misslungen und zu schlecht für das Jeu de Paume.

Während des Krieges dienten manche Säle des Louvre als Sortierlager für die von den Nazis geplünderten Pariser Privatsammlungen, und Dutzende von Werken Picassos gingen durch jenen Ort, darunter die Gouache "Buste de femme" von 1906/07 aus der Sammlung Alphonse Kann, die heute dem Berliner Museum Berggruen gehört. Besonders nah war die Beziehung Picassos nach dem Krieg zu Georges Salles, dem Direktor des Louvre bis 1957. Picasso regte an, sein Porträt zu malen, was ihm Einlass als Maler in die Porträtgalerie der Louvre-Direktoren gewähren sollte. Nach wiederholten Vorarbeiten dazu fragte er Salles eines Tages beim Modellsitzen wie beiläufig, ob es wahr sei, dass sein Kollege Georges Braque eine Saaldecke des Louvre ausmalen werde. Nach der bestätigenden Antwort Salles hatte er plötzlich keine Lust mehr zur Vollendung des Porträts und erklärte, er habe jetzt anderes zu tun.

"Führen alle falschen Wege in den Louvre und in die Akademie?"

Die offizielle Anerkennung seines Werks durch den Louvre zog sich hin. Eine große Retrospektive wurde ihm zwar 1955 von dem in einem Louvre-Flügel untergebrachten, aber eben nicht dazugehörenden Musée des Arts Décoratifs ausgerichtet. Zu einer offiziellen Ehrung im Louvre kam es erst, als der Staatspräsident Georges Pompidou 1971 die Anweisung gab, acht ausgesuchte Werke Picassos in die Grande Galerie neben die alten Meister zu hängen. "Rocking Chair" (1947) oder das "Mädchen mit dem Spielreifen" (1919) prangten da in unmittelbarer Nähe der Mona Lisa oder Watteaus "Arlequin". Anderthalb Jahre später starb Picasso im Alter von 92 Jahren, und seine Gattin Jacqueline beschloss, seine Privatsammlung dem Louvre zu vermachen. Es war ein eklektisches Ensemble aus rund 50 Werken unter anderem von Louis Le Nain, Chardin, Ingres, Cézanne, Matisse. Die Idee eines staatlichen Picasso-Museums in Paris lag aber schon in der Luft und erhielt einen zusätzlichen Schub, als die Entrichtung der Erbschaftsteuer nach Jacquelines Tod in Form einer Werkübereignung an den Staat sich abzeichnete. Dutzende von Gemälden, Zeichnungen, Keramiken und Drucken gingen so neben Picassos Privatsammlung in das 1985 eröffnete Musée Picasso ein.

"Führen alle falschen Wege in den Louvre und in die Akademie?", schrieb in einer Würdigung zur Ausstellung von 1955 das frisch gebackene Académie-Française-Mitglied Jean Cocteau und fuhr vollmundig fort: "Ich grüße den prächtigen Picasso mit meinem Akademikerschwert." Bei Picasso lief der Weg eher umgekehrt. Er, der früh auf den Pariser Flohmärkten und in der ethnografischen Sammlung des Musée de l'Homme herumstöberte, hat das ganz Andere in die akademische Institution geschmuggelt. Vor der Eröffnung des Pariser Quai-Branly-Museums 2006, in welches die Sammlung des Musée de l'Homme überging, wurde eine Auswahl seiner Meisterstücke im Louvre ausgestellt. Die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur war für Picasso nie von Bedeutung.

Les Louvre de Pablo Picasso. Louvre-Lens, bis 31. Januar 2022. Katalog 39,- Euro. Info:

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5456374
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/freu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.