Ukrainisches Tagebuch (X):Unergründliche Wege

Ukrainisches Tagebuch (X): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Tage zwischen der Hektik bei der Verteilung der Hilfsgüter und der lähmenden Untätigkeit im Bombenkeller: das Tagebuch aus der Ukraine.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Unser Team im International Office wird kleiner, eine junge Kollegin reist aus, mit ihrer 16-jährigen Schwester. Eigentlich wollte A. nicht weg, ihre Schwester S. auch nicht, die Auseinandersetzungen mit den Eltern waren heftig, A. war in den letzten Tagen ziemlich bedrückt. Nun geht es doch über Rumänien nach Dortmund. Sie wird uns fehlen, eine toughe, selbstbewusste, fließend Englisch sprechende junge Frau. Das deutsche Fernsehteam verlässt Czernowitz ebenfalls und reist weiter östlich. Das macht mich traurig. Nach wenigen Tagen, in denen wir immer wieder zusammengearbeitet haben, fühlt man sich beinahe verwandt. Dieses Weggehen fühlt sich für mich wie ein kleiner persönlicher Verlust an.

Am Freitag kommt eine zweite Hilfslieferung vom IKGS. Diesmal bin ich dran, an die Grenze zu fahren. Die Hilfsgüter werden im Zollbereich verladen. Zwar ist der Zöllner schlecht gelaunt und erklärt dem Fahrer und mir, es sei unmöglich, die Übergabe ohne eine ukrainische Übersetzung der Papiere abzuwickeln, außerdem hätten wir dieses und jenes erforderliche Schreiben nicht. Der offizielle Brief von der Militärgebietsverwaltung (so heißt jetzt die Gebietsverwaltung Czernowitz) und die Person des Prorektors der Universität Suceava stimmen ihn jedoch versöhnlicher. Der Prorektor ist eine integrative Person für die Universitäten und der Region schlechthin: Er stammt aus dem ukrainischen Teil der Bukowina, hier lebt seine Mutter, er selbst studierte an der Universität Czernowitz und machte Karriere im rumänischen Süden der Bukowina. Die Universität "Ștefan cel Mare" in Suceava wurde nach der Wende eine der ersten unserer internationalen Partnerhochschulen. Vom Prorektor erhalte ich auch einen Geldbetrag. Das Geld werden wir bestimmt schnell ausgeben.

Es ist sehr, sehr bitter, sich auch solche Fragen stellen zu müssen

Die Sachen werden in einem studentischen Gemeinschaftsraum eines Wohnheims ausgeladen, schnell sortiert und verteilt - sie gehen an die lokalen Verteidigungstruppen, ans Militärkrankenhaus, aber auch an die Menschen in den Wohnheimen. L. ruft an. Weitere 100 Stück Bettwäschesets stehen zur Abholung bereit, ich kann auch in Euro zahlen, die Summe wird umgerechnet. Also machen wir noch einen Abstecher zu der Firma, mit dem Universitätsbusfahrer haben wir Glück, er ist gelassen und kooperativ, das ist nicht unbedingt selbstverständlich. Trotz der Mittagspause in der dortigen Rechnungswesenabteilung wird alles schnell erledigt, und die Bettwäsche findet ihren Weg ins Wohnheim Nummer fünf.

Am Samstag ist wieder eine Hilfslieferung da, eine private Initiative von einer aus Czernowitz gebürtigen Freundin und unserem deutschen Ex-Kulturmanager B. Diesmal sind "meine Jungs" dran, ich selbst habe Dienst an der Universität. Es gibt Stellen, die nun rund um die Uhr besetzt sind. Unser Ex-Kollege B. nimmt außerdem vier Personen mit von der Grenze, es sind seine Bekannten, zwei Frauen, zwei Kinder. Der Transport für sie lässt sich so schnell und unkompliziert organisieren, wie es nur in einem digitalen Zeitalter möglich ist: Vor einigen Tagen meldete sich bei mir ein Bekannter, O., aus Dnipro. Er sei auch in Czernowitz, er sei mit seinem Auto da, er stünde gern zur Verfügung, ein Kaffee gemeinsam wäre auch schön. Ich freue mich sehr. In den zurückliegenden Jahren war O. mehrfach an unseren Austauschprojekten mit der Bildungsstätte Bredbeck beteiligt, als Gruppenleiter. Nun frage ich ihn erst einmal für den Transfer an die Grenze an. Es geht, klar, eine Uhrzeit wird vereinbart, dann stelle ich den direkten Kontakt her, alles geht per einige Klicks, nebenbei. Gott segne das Internet. Und einer der letzten Witze (der eigentlich gar kein Witz ist) geht übrigens so: "Während in Moskau der letzte McDonald's zumacht, kommt in Czernowitz die erste Starlink-Station von Elon Musk an."

Die Güter werden schnell verteilt, ein Teil geht auch nach Kiew. Die Prorektorin einer Universität ist in Czernowitz und holt die Sachen mit ihrem privaten Transport ab. Am Mittwoch oder Donnerstag soll eine nächste große Medikamentenlieferung aus Halle kommen, wohl ein Lkw, wir schauen, ob und wie wir wieder etwas nach Kiew schicken können.

Selbst wenn man keine Ahnung von Kriegsführung hat, fragt man sich, wie das möglich ist

In der Nacht auf Freitag ist um 5.30 Uhr Luftalarm. Mein Gast M. und ich gehen in den Keller, meine Mutter bleibt im Bett. In der Haushälfte meiner Schwester sitzt man zu fünft in einem kleinen, aber gut geschützten Garderobenzimmer. Während M. und ich Platz auf den Stühlen nehmen, sage ich: "Hätten wir uns jemals vorstellen können, als wir uns vor über 12 Jahren im Rahmen des deutsch-ukrainischen Doktorandenprogramms kennenlernten, dass wir einmal im Keller meines Hauses in Czernowitz sitzen würden?" Unergründlich sind Gottes Wege. Anderthalb Stunden später kann ich nicht mehr sitzen und gehe wieder hoch, draußen ist es ruhig. Unsere Katzen wollen ins Haus. Es ist strahlende Sonne. Ich bleibe in der Küche, eine halbe Stunde später ist Entwarnung.

In den Nachrichten steht, dass der Flughafen Iwano-Frankiwsk bombardiert wurde, wieder. Am Tag tragen wir eine alte Matratze in den Keller, so kann man sich wenigstens hinlegen. Der Luftalarm in der Nacht auf Sonntag ist um 3.25 Uhr, M. und ich gehen runter, ich lege mich hin und döse weiter. M. döst im Sitzen vor sich hin. Um 7.00 Uhr wieder raus. Der Flughafen Iwano-Frankiwsk wurde noch einmal bombardiert, laut dem Bürgermeister ist er jetzt komplett zerstört. Des Weiteren wurde der Truppenübungsplatz in Jaworiw im Gebiet Lwiw mit 30 Raketen beschossen. Während ich diese Zeilen schreibe, werden 35 Tote und 134 Verletzte gemeldet, die Zahlen sind nicht endgültig. Selbst wenn man keine Ahnung von der Kriegsführung und dem Militärwesen hat, fragt man sich, wie das möglich ist - kein Luftalarm, keine anderweitigen Sicherheitsmaßnahmen, wo es doch eindeutig zu erwarten war, dass Militärstandorte auch im Westen der Ukraine früher oder später angegriffen werden würden? Es ist sehr, sehr bitter, sich auch solche Fragen stellen zu müssen.

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