Ukrainisches Tagebuch (L):Eine Leseecke ohne Lenin

Ukrainisches Tagebuch (L): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Geistige Nahrung statt Lebensmittel: Was Oxana Matiychuk bei einem neuen Projekt über Kollaborateure erfährt.

Von Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Von der Gemeinde Pfaffenweiler erhielt unser Förderverein "Zentrum Gedankendach" eine Spende für die Arbeit mit Binnenflüchtlingen. Beim Online-Treffen des Vorstandes trage ich zwei Ideen vor, wofür wir das Geld verwenden können. Es müssen nicht immer Lebensmittel und Hygieneartikel sein. Die Entscheidung fällt zugunsten eines "Bildungsprojekts".

Mit der Ukrainistik-Kollegin S. sprachen wir schon vor einiger Zeit über einen besonderen Bedarf, nämlich die "geistige Nahrung". Ein paar Dutzend Bewohnerinnen und Bewohner unserer Wohnheime signalisierten den Wunsch, eine Leseecke zu haben. Empfohlene Schullektüre, Werke der gegenwärtigen ukrainischen Autoren, aktuelle Übersetzungen, landeskundliche Ausgaben, das sind die Interessenschwerpunkte. Wir bekommen einen ersten Besichtigungstermin, bei dem uns der Direktor des Studentendorfs einen Raum zeigt. Für eine Leseecke mit ein paar Regalen, Tischen und Sitzkissen ist der durchaus geeignet. In der sowjetischen Zeit war hier die in jeder Bildungseinrichtung obligatorische "Lenin-Ecke". War doch der sowjetische Führer mit seinen geflügelten Worten "Lernen, lernen und nochmals lernen" als ausdrücklicher Befürworter des lebenslangen Lernens bekannt.

Ein zweites Mal gehen S. und ich ins Wohnheim, um mit der "Initiativgruppe" zu sprechen. Schließlich wollen wir die Leute im Wohnheim miteinbeziehen . Unsere Gesprächspartnerinnen sind zwei Frauen, eine dritte kommt später hinzu, alle sind seit März im Wohnheim. Die älteste von uns allen ist die temperamentvolle, energische O. aus Berdiansk. Ihr Benehmen ist auffällig oberlehrerhaft, was angesichts ihrer 30 Jahre Erfahrung als Grundschullehrerin gut nachvollziehbar ist. S., die sie aus einem kunsttherapeutischen Workshop kennt, meint, hinzu kommt die posttraumatische Belastungsstörung. Im Gespräch, das wir anderthalb Stunden vor dem Wohnheim stehend führen, wird das mehr als deutlich. Sie verließ Berdiansk Ende März, als die Stadt bereits besetzt war, die Russen aber noch nicht offen Terror ausübten.

Die Schule, in der sie arbeitete, war die erste mit dem Ukrainischunterricht nach der Wende. Inzwischen eine moderne, bestens technisch ausgestattete Einrichtung, mit ca. 150 Lehrerinnen und Lehrern. Davon blieben zehn oder zwölf in Berdiansk, alle anderen evakuierten sich. Zwei von den Gebliebenen tauchten unter, ein paar sind übergelaufen und beginnen nun das neue Schuljahr nach den russischen Regeln. Der Schulsekretär, ein Mann über siebzig, war der erste Kollaborateur. Der Sekretär, wiederholt sie mit Nachdruck. Der Mann war die ideale Informationsquelle für die Besatzer. Weiterhin regt sich O. über die Schulleiterin auf. Diese habe offenbar nicht begriffen, was es bedeutete, als in den ersten Besatzungstagen die Russen als "Schulinspektion" kamen. Kurz danach wurde die Schule von allen modernen Gerätschaften "befreit". Die gingen womöglich nach Russland für die "Schulmodernisierung" dort. Sie entschied sich wegzugehen, als es für die nicht konformen Lehrenden immer gefährlicher wurde. Ihre Mutter musste sie zurücklassen, weil sie auf keinen Fall weggehen wollte. Seit vielen Wochen hat sie keinerlei Kontakt zu ihr, keine Verbindung. Der Schulunterricht geht aber weiter, die Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler sind überall auf der Welt verstreut und arbeiten online.

Und was ist in der Schule in Berdiansk? Die Russen haben schon welche angeschleppt, meint sie verächtlich. "Die Watte aus Marik" (steht für Kollaborateure aus Mariupol; als "Watte" werden Anhänger der "russischen Welt" bezeichnet) gebe es genug, die können gut Spalier stehen. Sie ist fest entschlossen, sofort zurückzugehen, wenn die ukrainische Flagge wieder über der Stadt gehisst ist. Angesichts des stets wechselnden Gesprächsstoffs zwischen dem Biografischen und dem Sachlichen dauert unsere Besprechung doppelt so lange, wie ich Zeit habe. Wir kommen in der Planung nur mühsam voran. Immerhin scheinen die Frauen fest entschlossen, sich des Projektes anzunehmen. S. und ich sind ziemlich erschöpft, freuen uns aber über den positiven Anfang.

Weitere Folgen dieser Kolumne lesen Sie hier.

Zur SZ-Startseite

Ukrainisches Tagebuch (XLVIV)
:Keine Menschen - keine Probleme

Ein halbes Jahr Krieg: Ein paar sarkastische Überlegungen zu Korruption, Vernichtungskrieg und dem stalinistischen Antihumanismus.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: