Ukrainisches Tagebuch (XLVIII):Plötzlich heulen die Sirenen

Ukrainisches Tagebuch (XLVIII): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Beim seltenen Besuch ausländischer Gäste ertönt prompt Luftalarm. Anschließend gibt es aber zumindest eine Geschichte, über die sich lachen lässt.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Am Dienstag, den 16. August bekommen wir einen Besuch aus Deutschland. Christian F. und Tobias Sch. von der Universität Jena reisen im Rahmen der Bewerbung Jenas für das Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation durch Südosteuropa, Czernowitz soll dabei eine Station sein. Wir sind für ein Gespräch in der Universität verabredet. Ich freue mich, sonst kommen ja nur noch sehr selten ausländische Gäste aus unseren akademischen Partnereinrichtungen nach Czernowitz. Die erste Frage von Christian bezieht sich auf die Inschrift auf dem großen "Banner", das am Tor hängt. "Schutzraum" bedeutet das, sage ich, und führe meine Gäste als Erstes in unseren Schutzkeller unter das Hauptgebäude der Universität.

Dann setzen wir uns für ein Gespräch zusammen, vor dem Beginn warne ich die beiden, dass ich gerade meinen "Dienst" habe, was bedeutet, dass ich im Falle eines Luftalarms telefonieren und mich dann vor den Kellereingang stellen muss, um die dahin gehenden Menschen gegebenenfalls zu lenken. Außer den Angestellten sind mehrere Abiturientinnen und Abiturienten sowie ihre Eltern im Gebäude, auch finden regelmäßig Führungen statt. Die Luftalarme werden nicht mehr ignoriert. Seit zwei russische Raketen zwei Universitätsgebäude in Mykolajiw trafen, ordnete unser Rektor an, sich unbedingt in die Schutzräume zu begeben, sonst droht eine Mahnung. Zehn Minuten nach dem Gesprächsanfang heulen tatsächlich die Sirenen. Also los. Mein Kollege O. übernimmt freundlicherweise die Rolle des Lenkers, und so können die Deutschen und ich das Gespräch unterirdisch fortsetzen. Die Universität richtete inzwischen zehn Schutzräume ein, die durch eine Kommission der regionalen Militärverwaltung als geeignet begutachtet wurden - eine Maßnahme, erforderlich für den Präsenzunterricht, der ab dem 1. September wieder stattfinden soll.

Unsere deutschen Gäste scheinen ziemlich beeindruckt zu sein - es war ihr erstes Interview im Schutzbunker

Unser Schutzraum sieht teils skurril aus. Er besteht aus mehreren Räumen. In einem steht ein Tischtennisplatte, das Spielangebot wird gern genutzt. In einer Ecke steht eine große verstaubte künstliche Zimmerpflanze. Tobias und ich setzen uns davor, Christian macht Fotos. Schäbige Wände ergänzen diese einmalige Kulisse. Im Raum nebenan liegt ein alter Teppich auf dem Betonboden. Designt ist unser Schutzkeller vom Hausmeister, der ziemlich eigenartige Vorstellungen von der Raumästhetik hat. Wir streiten uns manchmal - wenn er etwa mich zu überzeugen versucht, dass unser Büro von einem Teppich, den er abzugeben hat, unbedingt profitieren würde. Aber grundsätzlich ist er ein Freund von uns und ein guter Hausmeister. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der vieles, was sich bewegte, mitgehen ließ, hortet der jetzige alles und hat immer ein offenes Ohr für unsere Belange. Er studierte und verbrachte einen Großteil seines Lebens in Leningrad (St. Peterburg sagt er nicht), kam pensioniert zurück in seine Heimatstadt und arbeitet seit einigen Jahren in der Universität. Einige Tage nach dem Kriegsausbruch kam er vorbei, um mitzuteilen, dass er nun seinen letzten russischen Facebook-Freund "entfreundet" hat. Seine Begründung ist hier nicht zitierfähig.

Nach einer halben Stunde ist Entwarnung, und wir gehen wieder hoch. Unsere deutschen Gäste scheinen ziemlich beeindruckt zu sein, immerhin war das ihr erstes Interview im Schutzbunker. Wir sprechen noch eine Weile, auch von unseren Zukunftsvorstellungen, dann verabschieden sich die Gäste. Und dann erreicht mich ein "Gruß" aus der Vergangenheit, mir geschickt von meiner Freundin O., die es endlich geschafft hat, für ihre Recherche ins Archiv zu gehen. Es ist eine Momentaufnahme aus dem Leben unseres nördlichen Nachbarn, das gerade mit allen Mitteln versucht, uns in seine Einflusszone zurückzuziehen. Die Geschichte lese ich vor und übersetze für meine Kolleginnen, damit wir gemeinsam lachen können; ich möchte es den deutschen Leserinnen und Lesern auch nicht vorenthalten. Der Text stammt aus der deutschsprachigen Zeitung Czernowitzer Deutsche Tagespost vom 14. Jänner 1930: "Aus Moskau erzählt man folgende nette Geschichte: Anläßlich des Neujahrstages wollten die Kremlmachthaber ihren Untertanen eine kleine Freude bereiten. Sie beschlossen, den Einwohnern Moskaus pro Person zwei Eier auszureichen. Nach stundenlangem Anstehen in endlosen Reihen kam die freudig erregte Bevölkerung auch tatsächlich zu diesem Neujahrsgeschenk. - Groß war jedoch ihre Überraschung, als sie entdeckten, daß jedes Ei einen schönen blauen Stempel trug, dessen lakonische Inschrift in deutscher Sprache das Wörtchen ,zurück‛ enthielt. Es erwies sich, daß diese Eier seinerzeit aus Moskau nach Berlin exportiert worden waren, wo jedoch die akkuraten Deutschen festgestellt hatten, daß die Eier ungenießbar seien. Sie stempelten die Eier daher mit oben angeführtem Signum und schickten sie prompt nach Moskau zurück." Eine perfekte Illustration dessen, dass die Kremlmachthaber ihre "Untertanen" (welch ein richtiges Wort, Heinrich Mann lässt grüßen) schon immer für die Menschen zweiter (oder vielleicht auch 22.) Klasse hielten. Auch dagegen kämpfen wir gegenwärtig. Faule Eier als Geschenk der Machthaber überlassen wir alle gern den Untertanen und kommen am liebsten ohne jegliche Geschenke aus.

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