Ukrainisches Tagebuch (VII):Wir sehen uns bestimmt bald wieder

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Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Grenzbegegnungen: Unsere Autorin verabschiedet Ukrainerinnen und Ukrainer in Sicherheit, dann kehrt sie um. Ein Tagebuch aus der Ukraine.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Ich schreibe diese Zeilen am frühen Morgen des 8. März, es ist das erste Mal, dass ich zuvor keine Nachrichten gelesen habe. So langsam geht mir die innere Kraft aus, tagtäglich vom Massenmord in meinem Land zu lesen. Am Sonntag wollen zwei von meinen Gästen, Mutter und Sohn, über die Grenze, nach Polen, in Breslau lebt ihre Schwägerin. Auf der rumänischen Seite wartet eine Bekannte, eine Professorin der FU Berlin, die auf die Bitte von M. extra durch das halbe Europa gereist ist, um M.s Verwandte abzuholen. Die Grenze wollen sie zu Fuß passieren, das geht viel schneller als mit dem Auto. Ich entscheide mich, meinen Reisepass mitzunehmen und vielleicht mitzukommen, einfach um zu schauen, wie es funktioniert.

Männer dürfen das Land nicht verlassen, ich jedoch habe dieses Privileg. Außerdem könnte ich bei der ersten Begegnung dolmetschen, und meine Freude auf ein kurzes Wiedersehen mit der Professorin ist auch groß, wir kennen uns ebenfalls seit vielen Jahren. Auf der ukrainischen Seite werden die Pässe überhaupt nicht kontrolliert, der Menschenstrom wird einfach weiter gelenkt, der rumänische Grenzpolizist will wissen, wohin? Breslau, Polen, ok. Und ich gehe später wieder zurück, sage ich. Er ist nicht besonders verwundert, fragt nur, warum ich denn rüber will.

Wir dürfen aus dem eingezäunten Korridor auf die Autospur raus und schleppen zu siebt das Equipment

Dolmetschen und Bekannte sehen, in Ordnung. Zwei Stunden haben wir insgesamt gebraucht. Die Hilfsbereitschaft in Rumänien ist überwältigend. Freiwillige, Übersetzer, warmes Essen, Kleidung. Feuerwehrautos bringen Menschen nach Siret, dem nächsten Ort, wo Abholende warten. Bis an die Grenze dürfen sie mit ihren privaten Autos nicht fahren. Dann eine Begegnung am Ortsrand, ein Kennenlernen, eine Umarmung. "So sieht man sich wieder, wer hätte das gedacht." Ein gemeinsames Foto. Dann will ich zurück, damit es nicht zu spät und nicht dunkel wird. N., die Mutter, die sonst alles sehr stoisch erträgt, weint. Wir sehen uns bestimmt bald wieder, wenn der Krieg zu Ende ist.

Die Zeiten haben sich gewandelt: Deutsche bringen Ukrainerinnen und Ukrainer vor Russen in Sicherheit, ganz Europa versucht das verzweifelt. Der Rückweg ist gar kein Problem, mir wird sofort ein Auto gezeigt, das zum Grenzübergang fährt, warten muss man hier nicht, vor mir sind drei Menschen. Bei der ukrainischen Kontrolle lerne ich zufällig ein deutsches Fernsehteam kennen, sie wollen nach Czernowitz. Ein kleines Problem ist jedoch aufgetreten: Das gesamte Gepäck und das Equipment können sie nicht auf einmal mitnehmen, und den etwa 100 m langen eingezäunten Gang für Fußgänger, der auf die ukrainische Seite führt, darf man nicht hin- und zurücklaufen, der ukrainische Grenzpolizist ist kategorisch. Ich versuche an Mitleid und Verständnis der Beamten zu appellieren, irgendwann klappt es tatsächlich. Zwei kräftige Handwerker werden uns zur Hilfe geschickt. Wir dürfen aus dem eingezäunten Korridor auf die Autospur raus und schleppen zu siebt die Sachen, dabei laufen wir an die Schlange stehenden Menschen im ebensolchen eingezäunten Gang nach Rumänien vorbei, in die entgegengesetzte Richtung. Es muss ein groteskes Bild sein.

Mit einem Schlag fühle ich mich in meine Kindheit katapultiert, der Anblick leerer Regale prägte sich tief ein

Am nächsten Vormittag, es ist Montag, begleite ich das Team wieder an den Grenzübergang, von hier soll es eine erste direkte Schalte nach Deutschland geben. Die Fußgängerschlange ist nun dreimal so lang, die letzten Autos stehen Kilometer von der Grenze entfernt. Es schneit. Vermutlich werden Menschen heute viel mehr als zwei Stunden brauchen, bis sie auf der anderen Seite angekommen sind. Ich versuche mich emotional abzuschirmen und nicht darüber nachzudenken, was es wirklich bedeutet - stundenlang unter dem freien Himmel bei Minustemperaturen zu stehen. Viele Kinder sind dabei. Hilfsangebote sehe ich keine, oder vielleicht sind es nur wenige.

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Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Auf der Rückfahrt wollen wir an der zweitnächsten Tankstelle hinter der Grenze tanken. Maximal 20 Liter, mehr geht nicht, sagt die Kassiererin. Die Regale, wo normalerweise Lebensmittel und Getränke stehen, sind leer. Nicht, dass es wenig davon gibt. Es ist eine absolute schwarze Leere. Mit einem Schlag fühle ich mich in meine Kindheit der 80er Jahre katapultiert, der Anblick leerer Regale prägte sich tief ein. Mangelware hieß auf Ukrainisch und Russisch Defizit, Defizit war alles - von Seife bis Schuhen und Möbeln, als Toilettenpapier diente die Zeitung Pravda ( Wahrheit), das zentrale Propagandaorgan der KPdSU. Andere Zeitungen wohlgemerkt auch. Ob sich der damalige KGB-Offizier und der heutige Oberbefehlshaber der Russischen Föderation Wladimir Putin auch daran erinnert, indem er sich bemüht mit allen ihm zustehenden Mitteln die sowjetische Dystopie wiederherzustellen? Erste Schritte zu diesem Zustand in seinem Land hat er bereits getan.

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