Den Luftalarm um 10.30 Uhr am 2. März verbringen meine Kolleginnen und ich im Keller der alten Residenz der bukowinischen Metropoliten für die Ukraine und Dalmatien. Ein (wahrhaftiges) Meisterwerk des tschechischen Architekten Josef Hlávka, die Hauptsehenswürdigkeit von Tscherniwzi, heute ein Gebäude der Universität und seit 2011 Unesco-Welterbe. Eine der Fragen, die uns während dieser halben Stunde bis zur Entwarnung beschäftigen, ist, ob die Russen die Residenz beschießen würden. Inzwischen zweifelt niemand daran. Nicht aus Angst, im alten Kellergemäuer fühlt man sich so sicher wie wahrscheinlich nirgendwo sonst in dieser Stadt. "Eine der größten Kulturnationen der Welt" zeigt gerade ihre perfide unnachahmliche Art, mit einer anderen politischen Nation (der eine Kultur- und Geschichtstradition sowieso aberkannt ist, folglich ist alles erlaubt) umzugehen. Und wenn man die Begründung ernst nehmen sollte, dass der Krieg lediglich eine Folge der verletzen Gefühle und eines "mangelhaften Respekts" für die russischen Führer ist, so gibt es unter Putins Verbündeten einen, der definitiv solche Gründe hat, den Residenzkomplex in Schutt und Asche zu legen. Dieser eine ist niemand Geringerer als der russische Außenminister Sergej Lawrow höchstpersönlich. Im Januar 2013 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität verliehen. Die Zeremonie der Verleihung fand, wie immer in solchen Fällen, im Roten Saal der Universität, in den Wänden der alten Residenz, statt. Es gab einen guten Grund dafür: Russland unterstütze die Ukraine im Nominierungsverfahren der Unesco, das mehrere Jahre lang dauerte. Russlands Vertreter in der Unesco-Kommission soll sich sehr dafür ausgesprochen haben, nicht zuletzt weil er selbst einmal in der Stadt war und das zu nominierende Gut kannte. Am 21. Februar 2014, nach den Erschießungen auf dem Maidan, wurde Lawrow der Titel vom Akademischen Senat aberkannt. Als ich nach dem genauen Datum der Sitzung google, finde ich heraus, dass wir mit dieser Aktion seit dem 28. Februar 2022 nicht die Einzigen sind: Eine weitere Hochschule, die Universität Tromsø - Norwegens Arktische Universität, tat das ebenfalls.
Kurz nach fünf Uhr morgens lese ich von der größten Gefahr dieses Krieges
Kurz nach fünf Uhr morgens am 5. März lese ich die Nachrichten. Wir alle stehen jetzt vor der größten Gefahr dieses Krieges, der atomaren. Das in Saporischschja angegriffene Atomkraftwerk hat neun Atomblöcke. An der Unzurechnungsfähigkeit der Befehlsgeber zweifeln nur noch wenige. Physisch reagiere ich auf die Nachricht mit Schüttelfrost, wie immer in extremen Situationen. Aber ich muss mich fassen und in den Tag starten. Wir sind seit gestern Abend vier Personen mehr in unserem Haus, mein Kollege aus Schhytomyr mit seinem Bruder und dessen Familie ist doch gekommen. Um neun Uhr muss ich in der Universität sein, der schöne Konferenzraum des Zentrums Gedankendach und des International Office erfüllt nun eine andere Funktion an der Universität und ist 24/7 besetzt.

Ukrainisches Tagebuch (IV):Bomben auf Charkiw
Dieser Text unserer Autorin in der Ukraine kam spät, wegen der russischen Bomben. Sie schrieb dennoch - über Wissenschaft, Schuld und Isolation.
Während ich in der Küche herumwerkle, gehen mir Bilder aus einem Video durch den Kopf, Menschen in einer russischen Großstadt werden zum Krieg in der Ukraine befragt. Die Reaktionen sind vorhersagbar. Russland hat ein Bild der Ukraine erschaffen, die es so nie gegeben hat und nicht gibt. Die Bürgerinnen und Bürger der Russischen Föderation glauben tatsächlich daran, was sie in den staatlich kontrollierten Medien zu hören und zu lesen bekommen (Bilder sind dabei sekundär, wir alle wissen um die grenzenlosen Möglichkeiten von deren Bearbeitung). Selig ist, wer glaubt. Seit gestern sind die wenigen unabhängigen Medien in Russland gesperrt, kein Zugriff mehr auf Meduza, Echo Moskaus, Doschd. Mir kommt plötzlich ein Gedanke, der mich selbst in Schrecken versetzt: Nicht nur am Anfang war das Wort. Das Wort könnte auch ein Ende bedeuten, wenn es das Wort der Propaganda ist.
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