Ostrock-Ikone Dirk Michaelis:Die Zensur austricksen

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Dirk Michaelis, geboren 1961 in Ost-Berlin, war von 1985 bis 1991 Kopf der Rockband "Karussell". (Foto: Imago/Andreas Weihs)

Ostrock-Ikone Dirk Michaelis über seinen größten Hit, die Poesie des Ostens und den Moment im Herbst 1989, in dem er dachte, Deutschland würde das beste Land der Welt werden.

Interview von Antonie Rietzschel

Zu DDR-Zeiten sangen Bands wie Karat, City oder Silly von Freiheit und vom Wunsch abzuhauen. Und zwar so, dass die Zensurbehörden ihre Songs schwer verbieten konnten. Der heute 57-jährige Dirk Michaelis war in den Achtzigern Sänger der Band Karussell. Ihr Song "Als ich fortging" gilt als eine der großen Wendehymnen und wurde mittlerweile vielfach gecovert, unter anderem von Bands wie Rosenstolz oder Tokio Hotel.

SZ: Herr Michaelis, muss man in der DDR aufgewachsen sein, um "Ostrock" wirklich zu verstehen?

Dirk Michaelis: Ich weiß jedenfalls nicht, ob Westdeutsche die Entbehrungen und Sehnsüchte nachvollziehen können, die diese Musik hervorgebracht haben. Das Fehlen von Freiheit. Andererseits habe ich vor Kurzem eine Mail aus dem tiefsten Westen bekommen. Zu "Als ich fortging" schrieb er: "So ein schönes Lied habe ich lange nicht gehört, weiter so." Er glaubte, das sei ein neuer Song. Ich musste erst mal lachen. Aber dann habe mich gefreut.

Sie sind in Ost-Berlin in einer Künstler familie aufgewachsen. Ihr Vater war Leiter des Gerd-Michaelis-Chors, ihre Mutter Tänzerin im Friedrichstadtpalast. Sie hatten schon als Kind Gesangsunterricht. Stimmt es, dass Sie die Melodie von "Als ich fortging" mit zwölf komponierten?

Ich würde es nicht komponieren nennen. Da saß ein Junge mit schwerem Herzen am Klavier, als ihn diese Melodie erreichte.

Sie hatten damals eine Melodie, aber keinen Text. Den schrieb die Lyrikerin Gisela Steineckert. Eine Zeile lautet "Nichts ist von Dauer, wenn's keiner recht will. Auch die Trauer wird da sein, schwach und klein." Haben Sie damals verstanden, worum es ging?

Um ehrlich zu sein, war mir "Als ich fortging" zunächst zu poetisch.

Dabei war doch gerade Poesie ein Instrument, um die Zensur auszutricksen.

Im Westen sang Rio Reiser: "Macht kaputt, was euch kaputt macht." Im Osten sang die Band Lift: "Nach Süden, nach Süden wollte ich fliegen. (...) Doch gar nicht weit hinterm Haus, da fiel schon der erste Schnee."

Als vor 30 Jahren die Mauer fiel, traten Sie im Palast der Republik in Berlin auf. Wie war die Stimmung?

Am 10. November glaubten wir, dass niemand kommt, weil alle im Westen sind. Doch es war voll. Im Saal herrschte eine Mischung aus Hoffnung und dem unbezwingbarem Glauben, dass jetzt das Größte und Beste passiert, was wir uns vorstellen können: Beide Systeme werden einen Weg finden, das jeweils Beste herauszufiltern und zusammenzuführen. Wir dachten, wir würden jetzt das tollste Land der Welt.

Was passierte, als Sie "Als ich fortging" anstimmten?

Alle sangen mit: "Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein / Ich weiß, du willst unendlich sein - schwach und klein." Die Leute weinten. Auch ich hatte einen Kloß im Hals. Auf einmal war ich nicht mehr nur Sänger. Ich hörte mir selbst zu.

Die Musik von Bands wie "Karussell", "Lift" oder "City" wird heute als "Ostrock" einsortiert, stört Sie das?

Ich war mal mit Ulla Meinecke auf Tour. Sie wurde immer als Grande Dame des deutschen Chansons vorgestellt, ich war der Ostmusiker. Damals empfand ich das als Geringschätzung. Mittlerweile verstehe ich diese Zuschreibung als Ehre. Die Poesie des Ostens ist etwas Einzigartiges.

© SZ vom 07.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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